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Der Quarantänebrecher im Supermarkt und andere sagenhafte Corona-Geschichten

| 19 Kommentare

Haben Sie schon von dem Vorfall in einem Bremer Einkaufszentrum gehört? Ein Arzt traf dort auf einen Patienten, von dem er wusste, dass er positiv auf Corona getestet worden war – und meldete den Fall bei der Marktleitung.

Die Verantwortlichen hätten die Kunden via Lautsprecherdurchsage aufgefordert, den Laden zu verlassen, so wurde berichtet. Am Ende sei es nicht nur ein Kunde gewesen, der den Supermarkt verließ, sondern insgesamt 18 Personen.

Diese Geschichte kursiert etwa seit April letzten Jahres in Deutschand:

Der Zeit-Podcast Das Politikteil hat die Story jetzt aufgegriffen – unter dem Label „urban legends, moderne Märchen“:

In Zeiten der Pandemie entstehen und verbreiten sich diese und andere urban legends stärker denn je – und sorgen für Verunsicherung.

An sich ein löbliches Unterfangen. Aber neben dem „Quarantänebrecher-Alarm“ kennen auch die beiden Moderatoren und ihr Gesprächsgast Prof. Michael Butter nur noch eine weitere Corona-Wandersage, nämlich:

Dennoch ist die Frage ganz interessant, was diese beiden Geschichten von den zahllosen Fake News und Verschwörungstheorien unterscheidet, die derzeit umgehen.

Klassisches Kennzeichen für eine Wandersage ist ihr Variantenreichtum.

So spielt die Geschichte vom Quarantänebrecher im Supermarkt mal in der Oberpfalz, mal in Ingolstadt, in Lahr, Ravensburg, Menden oder im Rhein-Taunus-Kreis.

Mal ist es ein Arzt, der den Quarantänebrecher wiedererkennt, mal eine Ärztin, eine Arzthelferin, eine normale Kundin. Mal sind es acht Personen, die auffliegen und den Laden verlassen, dann wieder 18 oder 23.

Einzelne Elemente der Geschichte sind bei kurzem Nachdenken extrem unglaubwürdig, so etwa die Lautsprecherdurchsage des Marktleiters (der eine solche Situation sicherlich diskreter handhaben würde).

Und nicht zuletzt die Schlusspointe, auf die die ganze Story mit all ihren Unwahrscheinlichkeiten hinkonstruiert ist.

Am auffälligsten aber ist die implizite moralische Botschaft.

Im zweiten Fall (der getränkten Masken) handelt es sich um eine traditionelle Warngeschichte vor „Fremden“.

Die Story vom Quarantänebrecher wiederum gemahnt daran, uns „richtig“ zu verhalten – weil „falsches“ Verhalten eher früher als später doch auffliegt und mit einer äußerst peinlichen Situation endet.

Oder?

Natürlich könnte man die Geschichte auch andersherum deuten, im Sinne der Maßnahmen-Gegner, die damit illustrieren wollen, wie viele heimliche Gleichgesinnte sie haben und dass eh kaum jemand sich wirklich an die Regeln hält.

Damit wäre die Story eher eine Fake News, und so wird sie zum Beispiel von der Lebensmittelzeitung genannt.

Allerdings, erklärt auch Prof. Butter im Politikteil, sind Fake News eher vorgetäuschte Nachrichten zur Desinformation, wie etwa die Kolportage von den Flüchtlingen, die im bayerischen Friedberg regelmäßig den Edeka-Markt leerklauen.

Urban Legends dagegen transportieren eher eine Moralvorstellung. Hinzu kommt, dass Wandersagen die Realität erzählerisch deuten, also einer vorhandenen vagen Gefühlslage entspringen, während Fake News vorgeben, die Wirklichkeit zu beschreiben und damit Stimmungen erst gezielt herbeizuführen versuchen.

Als Beispiel wird in der Sendung die (Falsch-)Behauptung genannt, dass Biontech-Chef Uğur Şahin selbst nicht gegen Corona geimpft sei.

Auch wenn „die Grenzen nicht klar zu ziehen sind“, wie Butter betont, spricht zumindest einiges dafür, den Quarantänebrecher und die getränkten Masken als Wandersagen anzusehen – nicht als Fake News und schon gar nicht als Verschwörungstheorien, die konkret darauf abzielen, wer was aus welchen Gründen tut, um etwas Bestimmtes damit zu erreichen, stellt Butter ebenfalls klar.

Und sympathischer als Fake News und Verschwörungstheorien sind Urban Legends allemal.

Zum Weiterlesen:

  • Die irrsten Corona-Geschichten – und warum so viele sie glauben, Zeit-Podcast vom 28. Januar 2022
  • Die Kaufhausdurchsage „Arzthelferin erkennt Corona-Patientin“: Eine urbane Legende, mimikama am 17. November 2021
  • Quarantänebrecher-Alarm in Schweizer Läden: Diese Story geht viral – und ist kreuzfalsch, watson am 24. Januar 2022
  • Gibt es wirklich Quarantäneverstöße in Bremens Einkaufszentren? buten un binnen am 8. Januar 2022
  • Maske wird mit Chemikalie getränkt? mimikama am 25. Januar 2021
  • Faktencheck: BioNTech-Gründer lehnte eigene Impfung nicht ab, dw am 12. Dezember 2021
  • Interview mit Bernd Harder: Warum halten sich Urban Legends so hartnäckig? jetzt am 4. August 2016

19 Kommentare

  1. Das für mich ziemlich rätselhafte Motiv der Spinnengeburt aus der Geschwulst im Gesicht einer Frau wird 1842 wildromantisch hochdramatisiert bei Jeremias Gotthelf / „Die schwarze Spinne“.

  2. Das mit der Durchsage ist angeblich dem Schwager eines Kollegen passiert, nur dass es da fünfundvierzig Personen waren und das ganze in einem benannten Laden. In der Zeitung stand natürlich nichts :-D

    Und es war in Oberhausen statt in Bremen. Was mich wunderte war, dass es um weniger Ecken ging als sonst bei Sagen.

  3. @Peter Friedrich:

    Da man sich diesen verhängnisvollen „Insektenstich“, „Spinnenbiss“ etc., aus dem die Viecher dann ausschlüpfen, in der Regel im Ausland zuzieht (Afrika, Südamerika u.ä.), ist die übliche Deutung die einer klassischen Warngeschichte vor den Gefahren der „Fremde“ bzw. den „hygienischen Zuständen“ außerhalb der Heimat etc.

    Man soll halt zuhause bleiben, dann passiert einem „so etwas“ nicht.

  4. Das mit den COVID-positivem im Laden erscheint mir doch eine Variante des uralten Witzes über Geisterfahrer zu sein:

    Mann fährt mit seine Frau über die Autobahn A1 und hört Radio. Es kommt eine Durchsage „Achtung ein Falschfahrer auf der A1“. Er wendet sich zu seiner Frau und sagt: „So ein Blödsinn ‚ein Falschfahrer‘ – das sind hunderte!“

  5. Ich gebe zu, ich bin auf die Urban Legend mit den Quarantänebrechern hereingefallen. Ein Teil der Querdenker wehrt sich mit Vehemenz gegen die Hygieneregeln und leugnet die Existenz des Virus oder der Krankheit. Da ist vorstellbar, das eine ärztliche Anordnung schlicht nicht zur Kenntnis genommen wird.

    Andererseits habe ich auch angenommen, dass manche Personen aufgrund der Pandemie schlicht und ergreifend erschhöpft und nachlässig geworden sind. Diese Menschen sind dreifach geimpft, haben aufgrund Omikron eventuell gar keine Symptome und tragen Maske. Was soll da schon passieren, wenn sie einkaufen gehen?

    Warum soll die Story über die Quarantänebrecher dann nicht wahr sein, wenn man in 2 Jahren Pandemie schon so viele Dinge erlebt, die man sich vorher nicht vorstellen konnte, wie z.B., dass Ärzte bedroht werden, wenn sie die Gesundheit schützen wollen oder angesehene Persönlichkeiten in kurzer Zeit im Sumpf des Rechtsradikalismus und der Verschwörungsmythen versinken?

    Aber so ist diese Urban Legend doch eine gute Übung, seine eigenen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen nochmal zu hinterfragen-

  6. @Peter Friedrich:

    Bei diesen und anderen Stories muss ich grundsätzlich an die „Spinne in der Yuccapalme“ von Badesalz denken und stelle seufzend fest, dass viele meiner Mitmenschen immer noch auf so Humbug reinfallen und abfahren.

    https://www.laut.de/Badesalz/Songs/Die-Spinne-In-Der-Yuccapalme-787227

  7. @ Bernd Harder

    Danke… Demnach ist diese Symbolik bei Gotthelf anders aufgegriffen als in der klassischen Warngeschichte.

  8. die Lautsprecherdurchsage des Marktleiters (der eine solche Situation sicherlich diskreter handhaben würde)

    Hm… vielleicht nicht, weil der Arzt in der Geschichte doch unter Schweigepflicht stünde und den Namen seines Patienten nicht nennen dürfte. Weshalb auch eine Anzeige für ihn wohl nicht in Betracht käme.

  9. @RPGNo1:
    Da ist vorstellbar, das eine ärztliche Anordnung schlicht nicht zur Kenntnis genommen wird. […] Warum soll die Story über die Quarantänebrecher dann nicht wahr sein

    Sie leugnen die Existenz (oder Gefährlichkeit) des Virus, verweigern die Teilnahme an Maßnahmen zur Eindämmung, ignorieren ggf. konkrete ärztliche oder gesundheitsamtliche Anordnungen, aber der Aufforderung eines Supermarktes, Quarantänebrecher mögen sich bitte am Hinterausgang einfinden, sollen sie dann klaglos Folge leisten? Das erscheint mir sehr unplausibel.

    (Jetzt, im nachhinein. Wenn mir so eine Geschichte im Alltag erzählt worden wäre, wer weiß, wie ich das aufgenommen hätte; hängt sicher auch davon ab, wer es wie erzählt.)

    Aber so ist diese Urban Legend doch eine gute Übung, seine eigenen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen nochmal zu hinterfragen-

    Das auf alle Fälle.

  10. @Magda Eckstein
    Danke, die Badesalz-Version kannte ich noch nicht.

  11. Hat man nicht vor kurzem erst gehört, auf einem „Spaziergang“ hätte es eine Durchsage gegeben, dass ein Reptiloid unter den Mitläufern sei, der gebeten werde, sich bei der Polizei zu melden. Daraufhin seien 18 bei der Polizei erschienen …

    ;-)

  12. [Klugscheiß] Wer positiv getestet ist, befindet sich in „Isolation“. Dessen noch nicht erkrankte Angehörige sind in „Quarantaine“. [/Klugscheiß] :-)

  13. @gnaddrig

    Das erscheint mir sehr unplausibel.

    (Jetzt, im nachhinein. Wenn mir so eine Geschichte im Alltag erzählt worden wäre, wer weiß, wie ich das aufgenommen hätte; hängt sicher auch davon ab, wer es wie erzählt.)

    Eben. Deswegen bin ich ja vor gar nicht so langer Zeit auf so einen Artikel reingefallen. Und man sollte die zweite von mir genannte Gruppe nicht vergessen, die Erschöpften, Abgestumpften, Schulterzucker.

  14. @gnaddrig:

    Sie leugnen die Existenz (oder Gefährlichkeit) des Virus, verweigern die Teilnahme an Maßnahmen zur Eindämmung, ignorieren ggf. konkrete ärztliche oder gesundheitsamtliche Anordnungen, aber der Aufforderung eines Supermarktes, Quarantänebrecher mögen sich bitte am Hinterausgang einfinden, sollen sie dann klaglos Folge leisten? Das erscheint mir sehr unplausibel.

    Falsche bzw. zu eng gefasste Grundannahme: Sie gehen automatisch von Querdenkern und Impfverweigerern aus. Bei denen würde ich das geschilderte Verhalten auch nicht für plausibel halten.

    Spielen Sie das Ganze mal mit der Annahme eines 08/15-Geradedenkers durch. Der weiß, dass er im Geschäft nix verloren hat und das Quarantänebrechen ein teurer Spaß werden kann. Aus welchen Gründen auch immer geht der-/diejenige aber trotzdem einkaufen (Menschen sind irrational). Dann kommt die Durchsage.

    Versetzen Sie sich in diese Lage: da kommt Panik auf.
    Insofern halte ich solche Geschichten für alles andere als unplausibel.

    Außer natürlich in einem 08/15-Aldimarkt melden sich bei Durchsage 15 Personen. Da wird’s tatsächlich unglaubwürdig.

  15. kein gut ausgebildeter Marktleiter würde so einen blöden Spruch über die Lautsprecher loslassen. In einfachen Supermärkten sind die Durchsagen damit sowas nicht passiert vorgefertigte Ansagen auf Knopfdruck.

    In Einkaufzentren sind außer den Standarts(Frau xxx bitte an Kasse y), alle Ausrufe vorformuliert, „und“ die meisten verschlüsselt, schon um Panik zu verhindern. (da kommt nicht -es brennt in der Genüseabteilung, sondern ein entsprechender Code -zb Name bitte dringend auf xx-. genauso diskret werden die vorhandenen Ersthelfer benachrichtigt.

  16. Stimmt, ich hatte v.a. Überzeugungstäter vor Augen. Bei den Erschöpften, Abgestumpften, Schulterzuckern würde ich allerdings auch nicht erwarten, dass die sich dann am angesagten Ort einfinden, sondern eher, dass sie still und heimlich aus dem Laden verschwinden und in den Wochen danach erstmal anderswo einkaufen.

  17. Passend zu unserer Diskussion

    +++02:35 NRW-Hausärzte mahnen Quarantänemüdigkeit bei Kontaktpersonen an +++
    In der Bevölkerung macht sich laut dem Hausärzteverband Nordrhein Corona-Müdigkeit breit. „Insgesamt ist wohl in der Bevölkerung eine Testmüdigkeit aufgekommen. Viele, die als Kontaktperson in Quarantäne sein sollten, sind es nicht“, sagt Oliver Funken, Chef des Hausärzteverbands Nordrhein, der „Rheinische Post“.

    https://www.n-tv.de/panorama/07-50-Zuschauer-fragen-Experten-Schwaecht-eine-Impfung-kurzzeitig-das-Immunsystem–article21626512.html

  18. Na ja, es wurde ja schon auf einige unglaubwürdige Elemente eingegangen, wenn ich so grob durchscrolle.

    Wäre es ein Arzt gewesen, wäre mein erster Gedanke auch die Schweigepflicht. Die hat er ja dennoch, vor allem Privatpersonen gegenüber – es kann jedoch ein begründbarer Notstand sein der dazu berechtigen könnte, Behörden wie etwa die Polizei zu involvieren.

    Solch ein Aufruf könnte in einer Hexenjagd enden aber welcher Marktleiter oder Angestellte würde das tun.

    Irgendeiner Erna Müller, die beim Supermarkt an der Ecke arbeitet, darf ein Arzt jedenfalls nicht sagen „das da ist ein Patient von mir der wegen Covid in Quarantäne sein sollte – rufen Sie den mal aus“.

  19. Jetzt auch in der Süddeutschen:

    Kann das wahr sein? Wer sich ernsthaft mit diesen angeblichen Quarantäneverstößen beschäftigt, kommt bald ins Zweifeln. Aber die Story ist kurz, sie verfügt über einen beträchtlichen Kopfschüttel-Faktor und hat eine moralische Pointe – ideal zum Ausschmücken, Abwandeln und Weitererzählen bei Familienfesten, unter Arbeitskollegen oder im Sportverein. Damit hat die Geschichte vom Quarantänebrecher im Supermarkt alle Elemente einer Urban Legend, einer modernen Wandersage – und sie passt gut in die Zeit […]

    Wie bei allen Urban Legends verlieren sich die Anfänge der Supermarkt-Sage im Nebulösen. Deshalb kann sie auch jeder problemlos weitererzählen. Skeptiker Bernd Harder findet das in diesem Fall nicht schlimm. „Nach all den wirklich gefährlichen, aggressiven Verschwörungstheorien und Fake News, die seit zwei Jahren in der Corona-Pandemie verbreitet werden, ist das für mich eher sogar mal eine fast angenehme, sympathische Abwechslung“, sagt er. Er sieht kein Gefahrenpotenzial, sondern im Gegenteil eine moralische Botschaft: die Aufforderung, sich an die Regeln zu halten. Denn man könne die Geschichte auch so verstehen: „Bleibt gefälligst zu Hause, wenn ihr in Corona-Quarantäne seid, denn ihr fliegt immer irgendwie auf, und dann wird’s peinlich.“

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