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Impfpflicht und Verfassung

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Die Zeit sinniert heute über eine mögliche Verfassungswidrigkeit der geplanten Impfpflicht gegen Masern. Der Bundestag berät ab Freitag die Details des Plans.

Probleme sieht der Zeit-Autor dabei weniger mit den Verfassungsgarantien „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ und „Erziehungsrecht der Eltern“ („Die beiden lassen sich noch recht einfach gegen die Rechte der Mitmenschen abwägen“) als vielmehr mit der „Menschenwürde“:

Artikel 1 des Grundgesetzes schützt den Bürger davor, verdinglicht zu werden […] Aber wäre dies nicht eine Verzweckung der Menschen, weil sie dazu benutzt würden, andere zu schützen?

Wann immer Jens Spahns Masernschutzgesetz verabschiedet wird – es dürfte vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Den Richtern stehen harte Fragen ins Haus.

Der BR zitiert darüber hinaus Dr. Jan Oude-Aost vom Informationsnetzwerk Impfen:

Auch [er] fürchtet, dass Kritiker gegen das Gesetz juristisch vorgehen – und tatsächlich Recht bekommen könnten:

„Die Leute, die sich gegen impfen aussprechen, würden sich bestätigt sehen durch das oberste deutsche Gericht. Das – kann ich mir vorstellen – schadet dem Impfgedanken.“

Das Statement stammt von einer Podiumsdiskussion in Berlin, über die Oude-Aost im INI-Blog berichtet:

  • #Spahnsinn – Für und Wider Impfen im Friedrichshainer “Kosmos” – Teil I: Atmosphärisches vom 18. Oktober 2019
  • #Spahnsinn – Für und Wider Impfen im Friedrichshainer “Kosmos” – Teil II: Die Podiumsdiskussion vom 109. Oktober 2019

Zum Weiterlesen:

  • Impfpflicht: Ist das „Masernschutzgesetz“ verfassungswidrig? BR am 23. Oktober 2019
  • Impfpflicht: Der Piks und die Würde, Zeit-Online am 23. Oktober 2019
  • Masern-Impfpflicht mit Bußgeld: Bundestag macht Ernst, morgenpost am 18. Oktober 2019
  • Video: „Streit um die Impfpflicht“ heute bei ZDFzoom, GWUP-Blog am 16. Oktober 2019
  • Masernschutzgesetz: Belastung oder Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes? Gesundheits-Check am 11. Oktober 2019

17 Kommentare

  1. Bei allem Respekt – Herrn Bittners Argumentation zur generellen Verfassungswidrigkeit einer Impfpflicht wegen einer angeblichen „Verdinglichung“ des Impfverpflichteten für einen „fremden Zweck“, und damit wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde, halte ich für einigermaßen absurd.

    Sicher hatte er dabei das Flugzeugabschuss-Urteil aus Zeiten von Verteidigungsminster Friedrich im Hinterkopf, zu dem letzterer ja bekanntlich verfassungsrechtlich einwandfrei äußerte, es schere ihn nicht…

    Das aber ist sozusagen ein fliegender Vergleich, aus dem auch „die Menschenwürde“ nicht als unmittelbar subjektives Recht herausinterpretiert werden darf.

    Ein Blick in das sorgfältig abwägende Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages gibt Aufschluss darüber, dass die Gewährleistung eines Herdenschutzes im Erfordernisfalle durchaus hinter allgemeinen Persönlichkeitsrechten zurückstehen kann. (https://www.bundestag.de/resource/blob/424536/d5ca52c1db5c8e0a837031b5e0f105ef/wd-3-056-16-pdf-data.pdf)

    Nun, da ist Herr Spahn in seiner Tradition, ihn schert auch vieles nicht. Zum Beispiel die Expertenmeinungen zur Impfpflicht, vom RKI bis zu den universitären Gesundheitswissenschaftlern. Die er vor seinem aus dem Ärmel gezogenen Gesetzentwurf nicht einmal konsultiert hat.

    Und so wird, da bin ich d’accord, Herr Spahn mitsamt seinem Gesetz wohl noch vor mancher harten Prüfung stehen. Denn das verfassungsrechtliche Risiko für das Gesetz liegt ganz woanders:

    Die Voraussetzungen, unter denen der Staat Eingriffsgesetze erlassen darf, sind verfassungsrechtlich klar. Zu beachten hat er vor allem die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel unter angemessener Abwägung widerstreitender Rechte.

    Wenn nun gar das „bundeseigene“ RKI und die Mehrheit der Gesundheitswissenschaftler nicht nur darauf hinweisen, dass gesundheitspolitisch sinnvolle und wichtige Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquoten längst nicht ausgeschöpft sind und zudem das Gesetz wegen der Fokussierung auf die Kindergarten- und Einschulungsgenerationen das Ziel, für die Gesamtbevölkerung eine ausreichende Durchimpfungsrate zu erreichen, mit hoher Wahrscheinlichkeit verfehlen wird – dann wird wohl der Termin in Karlsruhe nicht länger dauern als die Frühstückspause.

    Wohl kaum ein Verfassungsrechtler wird davon ausgehen, dass eine Impfpflicht grundsätzlich verfassungswidrig wäre (hier nochmals der Verweis auf das Gutachten des Wiss. Dienstes). Wenn man aber Gesetzentwürfe nach Gutsherrenart auf den Tisch wirft, die von der Abteilung „Populismus“ gestrickt worden sind, braucht man sich hinterher nicht zu wundern, wenn die hervorstehenden Ecken überall anschrammen.

    Nicht okay so, Herr Spahn. Schon wieder.

  2. @ Udo Endruscheit:

    Herr Bittner hatte das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz nicht nur im Hinterkopf, er beruft sich explizit darauf. Es lohnt sich, dazu das Urteil und die konkreten Begründungen zu lesen: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2006/bvg06-011.html.

    Am Ende seines Artikels versteigt er sich sogar dazu, das Folterverbot infrage zu stellen. Herr Bittner hat beim Blick auf Art. 1 GG offenkundig die Maßstäbe verloren, die er selbst einfordert.

    Wenn die Polizei einen Betrunkenen aus dem Verkehr zieht, damit er keine Dritten gefährdet, ist das schließlich auch keine „Verdinglichung“ und „Verzweckung“, die gegen die Garantie der Menschenwürde verstößt.

  3. @ Joseph Kuhn

    Bittner verirrt sich in einem Dschungel, dessen Pfade er nicht kennt. Die Formel von Günter Düring vom Verbot des „Menschen als Objekt“, was durch die Menschenwürdegarantie absolut gesetzt sei, wurde vom BVerfG selbst schon mehrfach relativiert:

    „Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss.“
    (BVerfGE 5, 85; BVerfGE 6, 32; BVerfGE 7, 198)

    Únd gerade beim Folterverbot ist die Verfassungsrechtsprechung sonnenklar: Dieses gehört zu den wenigen expliziten Absolutsetzungen der Menschenwürdegarantie, das damit auch keiner Gesetzgebung mehr zur Disposition steht, ja, sogar vom Ewigkeitsartikel 79 des Grundgesetzes geschützt wird.

    Und die Impfpflicht? Ist dagegen eine im Wind schwankende Pappel.

  4. Seien wir ehrlich: es gibt nur zwei Möglichkeiten.
    1) Die Zeit wurde von der Bild übernommen (d.h. von Feinde von echten Journalismus).
    2) Der Artikel wurde von Boiron oder irgendeinanderem Globulihersteller finanziert, wenn nicht direkt geschrieben.
    Tertium non datur.

  5. Was ich bei der Diskussion nicht verstehe:
    Nicht nur in der DDR gab es eine Impfpflicht, auch in der BRD. Pocken war eine Pflichtimpfung. Und wir haben meines Wissens nach hier keine relevanten Grundgesetzänderungen erlebt.

    Die Pockenschutzimpfung ist eine Erfolgsgeschichte. Durch die Impfpflicht musste ich schon nicht mehr geimpft werden, da die Pocken ausgerottet wurden.

    Man kann das ganze damit auch herunterbrechen auf:
    A) 1 – 3 Generationen Masernimpfung mit Pflicht -> Masern beim Menschen ausgerottet.
    b) Ewiges Impfen gegen Masern.
    Bei welcher Variante werden wohl mehr Menschen gegen Masern geimpft?

  6. @ Udo Endruscheit:

    Der Artikel von Herrn Bittner ist auch sonst kein journalistisches Glanzlicht. So schreibt er beispielsweise:

    „Weil die Durchimpfungsrate der deutschen Bevölkerung unter die kritische Marke von 95 Prozent gefallen sei, müsse die bisherige Freiwilligkeit durch Zwang ersetzt werden, lautet die Begründung für das Gesetz.“

    Das steht aber gar nicht in der Gesetzesbegründung, das ist frei erfunden. In der Sache wäre diese Begründung zudem falsch, weil die Impfquote noch nie über 95 % lag und auch nicht gesunken ist, sondern stetig gestiegen ist.

    Es gibt gute Einwände gegen eine Masern-Impfpflicht, von den nicht ausgeschöpften milderen Mitteln über die Befunde von Frau Betsch zu möglichen Reaktanzeffekten bis hin zu den gemischten Erfahrungen mit Impfpflichten im internationalen Raum – bei Herrn Bittner findet man sie nicht.

    Impfgegnern gefällt sein Text den Kommentaren in der ZEIT zufolge natürlich trotzdem, ihnen ist jedes „Argument“ recht.

  7. Gesamtbefund:
    Der Irrsinn in Zeiten kommender Impfpflicht… Unfähig zu jeder Differenzierung.

    Da lobe ich mir die differenzierte, schon zwei Jahre alte Betrachtung bei „Susannchen braucht keine Globuli“, die auch einige Infos zu „früher …“ enthält:
    https://susannchen.info/?p=2174

    Was für ein Quark, all das. Und ja, Bittner spielt den Impfgegnern noch in die Hände. Das ist das Allerschlimmste.

  8. Man soll ja niemals nie sagen – und beim Bundesverfassungsgericht ist manches möglich. Aber hier stellen sich im Grunde keine „harten Fragen“. Ich lehne mich daher mal aus dem Fenster und behaupte, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der Impfpflicht keine Probleme haben wird.

    1. Der Zusammenhang mit der Menschenwürde nach Maßgabe der Dürig’schen Objektformel ist abwegig. Einschränkungen der Freiheit im Interesse der Mitmenschen sind juristischer Alltag und verletzen nicht die Menschenwürde. Der Fall des Luftsicherheitsgesetzes lag völlig anders, weil hier eine Pflicht zur Opferung des Lebens im Drittinteresse im Raum stand.

    2. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist auch nicht unverhältnismäßig.

    a. Das Gesetz ist jedenfalls geeignet, die Impfrate zu erhöhen. Ob eine weitergehende Impflicht noch besser geeignet wäre, dürfte keine Rolle spielen.

    b. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich, weil dieses „gleich wirksam“ sein müsste. Das ist für Appelle, sich impfen zu lassen, wohl zu verneinen und erfordert im Übrigen eine Prognose; insoweit besitzt der Gesetzgeber einen Einschätzungsspielraum.

    c. Die geringfügige Beeinträchtigung durch einen „Piks“ ist im Verhältnis zu den Krankheitsfolgen im Grunde vernachlässigbar.

  9. @ crazyfrog:

    Wie seltsam in der Schweiz – auch von Gerichten – das Kindswohl definiert wird, durften wir bereits am eigenen Leib (bzw. in der eigenen Familie) erfahren. Da wundert mich nichts mehr.

  10. Impressionen aus der Anhörung im Bundestag am letzten Mittwoch (Reiter „Anhörung“): https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw42-de-masernschutzgesetz-659910

    Die erste Lesung am Freitag vor einer Woche kann dort ebenfalls nachverfolgt werden, einschließlich der Reden der Abgeordneten (Reiter „1. Lesung“).

  11. @crazyfrog:

    Charmante Headline:

    Masern – „Dagegen helfen weder Globuli noch Klangschalen“

  12. Es ist ja nur ein kleiner Haufen von hartnäckigen Impfgegnern, die laut schreien und agitieren. Leider haben diese Menschen es irgendwie geschafft, den Diskurs zu bestimmen.

    Mich würde nur mal interessieren, wann diese Hysterie in Sachen Impfung aufgekommen ist.

    Als ich noch in die Volksschule ging (und trotz anderslautender Gerüchte war dies zu Zeiten eines Kanzlers Brandt und nicht Ebert…), war es vollkommen normal, dass in der zweiten Klasse das Gesundheitsamt in die Schule kam und uns die Schluckimpfung gegen Polio oder andere Impfungen verabreichte.

    Da gab es gar keine Diskussionen und sogar der einzige Zeuge Jehovas der Klasse stand mit in der Schlange.

    Eine Vorgehensweise der Behörden, die heutzutage wahrscheinlich durch alle Instanzen geklagt würde…

  13. @ Onkel Michael:

    „und trotz anderslautender Gerüchte war dies zu Zeiten eines Kanzlers Brandt und nicht Ebert“

    Ich dachte immer, es wäre Kanzler Bismarck gewesen…

    *enteundeinband*

    Aber mal ernsthaft: die Impfkritik ist fast so alt wie das Impfen an sich, sie wurde nur durch das Internet immer lauter.

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