Gute Frage:
Florian Aigner erklärt bei Futurezone, warum das nicht so einfach ist:
Es [wird] nie möglich sein, eine reine Wissenschaftspartei zu gründen. Wir können das Regieren nicht einfach an Experten delegieren, wie die Konstruktion einer Hängebrücke. Wissenschaftliche Fakten alleine sind noch kein Wahlprogramm.
Entscheidend ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik erkannt, ernstgenommen und berücksichtigt werden – aber dann muss eine politische Entscheidung her, die immer auch durch unwissenschaftliche Dinge wie Moral, Tradition und Kultur geprägt ist.
Zum Weiterlesen:
- Warum gibt es keine Wissenschaftspartei? futurezone am 30. September 2019
- Wissenschaftlicher Blödsinn, futurezone am 15. September 2019
- Politikberatung ist eine wissenschaftliche Pflicht, humboldt-foundation
- Das Dilemma der Klimaforscher: Wie politisch darf Wissenschaft sein? Deutschlandfunk Kultur am 29. November 2018
1. Oktober 2019 um 08:16
Dem Wunsch von Florian Aigner, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik mehr Berücksichtigung finden sollten, ist natürlich nicht zu widersprechen, man sehe sich nur die politischen Debatten um den Klimawandel, die Krankenhauslandschaft oder die Homöopathie an.
Ebenso richtig ist sein Hinweis darauf, dass die Wissenschaft alleine politische Entscheidungen nicht determinieren kann. Demokratie und wissenschaftliche Wahrheit sind nicht deckungsgleich.
Aber sein Text liest sich leicht so, als seien wissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik bisher gar kein Thema. Dem ist natürlich nicht so. Der Staat unterhält eine Vielzahl von Fachbehörden (RKI, BfR, usw. usw.), die nichts anderes tun, als Wissenschaft für die Politik verfügbar zu machen, und die Ministerien lassen sich häufig durch Fachberatungen, Gutachten etc. zusätzlich den wissenschaftlichen Sachstand nahebringen.
1. Oktober 2019 um 20:48
@Joseph Kuhn
Ja, es gibt diese Fachbehörden, die meiner Meinung auch hervorragend arbeiten. Aber, sofern diese entgegen dem Mainstream diverser bestimmter NGOs etwas nicht verteufeln, was diese NGOs als „Pfui“ betrachten, werden diese Fachbehörden selbstverständlich als lobbyverseucht von der Chemieindustrie, der Agrarindustrie, der Pharmamafia usw. beschuldigt.
Eine wirksame Unterstützung dieser Behörden durch die politischen Instanzen fehlt natürlich, man könnte ja potentielle Wähler verstören.
Beispiele: Glyphosat, Impfungen, insbesondere gegen die damalige Schweinegrippe.
2. Oktober 2019 um 00:07
@ Habra:
Bekanntlich wird die Arbeit der Fachbehörden nicht nur von NGOs infrage gestellt, wie man beispielsweise in der Dieseldebatte sehen konnte. Die Akzeptanz der Arbeit von Fachbehörden wäre eine eigene, andere Diskussion.
2. Oktober 2019 um 08:00
Ja, Florian Aigner und @Joseph Kuhn sind zuzustimmen, dass die Wissenschaft nicht vorgibt bzw. determinieren sollte, was die Politik macht.
Nebenbei: Das schien niemanden zu stören (mich schon), dass „Rezo“ genau das gefordert hat, und bezügich der Empfehlungen „der Wissenschaft“ über die Politik (insbesondere CDU und SPD) resumiert: „Machen sie nicht“, als sollte die Politik Befehlsempfänger „der Wissenschaft“ sein.
@Joseph Kuhn hat recht, dass die Politik sinnvollerweise Behörden, wie das BfR und das RKI zur Beratung heranzieht. Dass die Politik (weit mehr als „nur“ die NGOs) das BfR in Sachen Risikobewertung dann ignoriert, wenn es ihnen nicht passt ist eine andere Frage.
Ein sehr guter Vortrag hielt dazu Sven Ove Hansson bei der World Skeptics Conferenz 2012 in Berlin, der eine Trennung vornahm: Status der Wissenschaft einerseits, der natürlich auch die Folgen verschiedener Technologien beinhaltet einerseits und die politische Umsetzung andererseits.
Konkret heißt das: Die Politik kann sicher Entscheidungen aufgrund anderer nicht-wissenschaftlichen Überlegungen treffen, wie Wachstum, Arbeitsplätze, keine Patente, mehr Steuereinnahmen für X oder Erhaltung der Idylle im Dorf oder auf dem Land, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie sollten dann aber bitte schön genau die Gründe für ihre Entscheidung offen legen.
Was nicht geht ist, wissenschaftliche Gründe vorzuschieben, die keine sind bzw. pseudowissenschaftlich sind. Das betrifft wie @Habra schreibt Glyphosat, aber genauso eine Menge (pseudowissenschaftliche) Behauptungen über Gefahren der Gentechnik gespickt mit alternative Fakten, wie Selbstmord unter indischen Bauern als Folge des Einsatzes der Gentechnik.
Das besonders ärgerliche ist, dass ein solcher Bullshit, der sich nur im betroffenen Bereich von der Klimawandelleugnung bei EIKE unterscheidet nicht nur von Politikern ins Feld geführt wird, wie bei Gentechnik in Deutschland/Europa, Evolution in den USA oder (früher) AIDS/HIV in Südafrika.
Selbst Professoren und TV-Show Größen, wie Harald Lesch, die (zurecht) gegen Wissenschaftsleugnung in Sachen Klima Stellung beziehen machen genau das Gleiche, wenn es um die Gentechnik geht, worüber ich in einer Bücherrezension im Skeptiker geschrieben habe.
Unterscheiden tun sich nur die jeweiligen Ideologien, die sie mit der Wissenschaftsleugnung fördern möchten.
Nur damit das kein Missverständnis ist: Ich vergleiche damit die jeweiligen Ideologien nicht. Das wäre jedenfalls eine separate Debatte.
Manche Ideologien, die hinter einer Leugnung stehen sind abscheulich und menschenverachtend, siehe Holocaust-Leugnung. Andere sind es aber nicht notwendigerweise. Sie können es sein, müssen aber nicht.
Diese Trennung zwischen Leugnung und Ideologie bzw. Weltanschauung in der Debatte ist wichtig. Sehr nette und angenehme Menschen können alternative Fakten verbreiten und wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen.
Manchmal ist eine Leugnung sogar rational: Wenn jemand aus seiner tiefgläubigen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden möchte und deshalb die Evolution leugnet.
2. Oktober 2019 um 17:42
Die Wissenschaft hat eigentlich nur beratende „Macht“, aber wenn die Politik sich weigert, die gesicherten Erkenntnisse anzuerkennen, dann wäre es wirklich an der Zeit für eine „Wissenschaftspartei“…aber würde diese von vielen gewählt werden? – das ist die Frage…die Frage nach einem „wissenschaftlichen Populismus“…eine Wissenschaft, die dem Volk auf’s Maul schaut (wer schrieb das? ;-)), ist auch schwierig…und die Wissenschaft auf den einfachsten Nenner zu brechen, daß es auch fast jeder versteht, ist auch nicht einfach…und macht sie auch angreifbar, da man dazu vieles zu sehr vereinfachen muß…
3. Oktober 2019 um 13:43
@Ralf im Vollrausch: Während wir sicher alle wollen, dass Parteien sich an Erkenntnisse der Wissenschaft orientieren haben wir das Problem, dass der Ausgleich unterschiedlichster Interessen in der Bevölkerung nicht wissenschaftlich lösbar ist.
Es bleibt eine „parteiische“ und weltanschauliche Frage, welche Interessen Vorrang vor andere haben.
Es gibt auch Weltanschauungen und daher auch sich daran orientierende Parteien, die mache wissenschaftliche Erkenntnisse – zum Beispiel Evolution – nicht akzeptieren können, ohne ihre Weltanschauung zu „verraten“.
3. Oktober 2019 um 16:23
@ Ralf im Vollrausch:
Gerade in den Fällen, in denen sich die Politik nicht an wissenschaftlichen Befunden orientiert, weil sie gesellschaftliche Rücksichten nehmen muss, wäre eine Wissenschaftspartei vermutlich wenig hilfreich.
Bei tiefgreifenden gesellschaftlichen Interessenkonflikten ist, wie in jedem Krieg, nicht selten die Wahrheit das erste Opfer, d.h. Wissenschaft wird instrumentalisiert, siehe Passivrauchen, Dieselabgase oder Glyphosat. Im schlimmsten Fall finden sich ernstzunehmende wissenschaftliche Stimmen auf beiden Seiten.
Eine Wissenschaftspartei würde so wenig wie die Wissenschaft selbst über solchen Konflikten schweben, rein, im objektiven Licht strahlend, für alle als Leuchtturm der Wahrheit den richtigen Weg weisend. Möglicherweise würde sie sogar zum besonders beliebten Tummelplatz für Lobbyisten aller Art.
Ich fände eine Wetterpartei besser. Da gäbe es einen Schlechtwetter-Flügel und einen Sonnenschein-Flügel und je nach Wetter erheben die einen oder die anderen gut nachvollziehbare Forderungen. ;-)
4. Oktober 2019 um 12:49
Bartocast mit Florian Aigner zum Thema: https://bartocast.de/?p=712
Mit Dr. Florian Aigner diskutierte ich über seinen Artikel „Warum gibt es keine Wissenschaftspartei?„. Wie ist das Verhältnis von Politik und Wissenschaft – und wie sollte es sein?