Die kanadische Musikerin Joni Mitchell ist in ein Krankenhaus bei Los Angeles eingeliefert worden.
Obwohl die Gründe dafür völlig unklar sind, spekulieren einige Medien über eine „Morgellonen-Erkrankung“.
In den letzten Jahren hatte die Singer-Songwriter-Legende in verschiedenen Interviews über „Morgellons“ geklagt, zum Beispiel im New York Magazine und in der Daily Mail:
Fibers in a variety of colors protrude out of my skin like mushrooms after a rainstorm. They cannot be forensically identified as animal, vegetable, or mineral […]
It’s all in the tissue and it’s not a hallucination. It was eating me alive, sucking the juices out. I’ve been sick all my life.“
Betroffene wie Joni Mitchell berichten, dass ihnen bunte Fasern aus der Haut wachsen und quälende Symptome wie Juckreiz, Läsionen und Ausschläge verursachen.
Manche Patienten vermuten, bei den Fusseln handele es sich um Abfallprodukte mysteriöser Lebewesen, die sich unter der Haut eingenistet haben.
Zahllose Verschwörungsseiten im Internet bringen die angebliche „Faserkrankheit“ mit „Geo-Engineering“, „Chemtrails“ oder „künstlichen Nanopartikeln“ in Verbindung.
Tatsächlich handelt es sich bei der „Morgellonen-Krankheit“ wohl um eine Variante des sogenannten Dermatozoenwahns, bei der Betroffene fest davon überzeugt sind, von Erregern, Parasiten oder anderen kleinen Lebewesen befallen zu sein.
Die deutsche Webseite vom Rolling Stone-Magazin hat das irgendwie nicht richtig verstanden (oder schlecht übersetzt) und bringt es fertig, „Morgellons“ zwar korrekt als „Variante des Dermatozoenwahns“ einzuordnen – zugleich aber von real existierenden „bunten Fasern in der Haut oder im Unterhautgewebe“ zu berichten und „Pilze oder bakterielle Erreger als Ursache“ zu vermuten.
Liebe Kollegen, eine psychische Erkrankung wird nicht von Pilzen verursacht und bringt schon gar keine „bunten Fasern im Unterhautgewebe“ hervor.
Bislang wurden die „Morgellons-Fasern“ als …
… Nylon, Baumwolle, ein blondes menschliches Haar, eine Pilzfaser, als Haar von einem Nagetier und Federhärchen von Gänsen oder Enten identifiziert“
schreibt der Journalist Will Storr in seinem Buch „The Heretics: Adventures with the Enemies of Science“.
Als er eine Morgellon-gläubige Ärztin besuchte, erlebte Storr Folgendes:
Am nächsten Tag leitet die Ärztin Ginger Savely, die schon mehr als 500 Morgellons-Patienten behandelt haben will, eine informelle Diskussion im Konferenzraum. An den runden Tischen sitzen die Zurückgewiesenen und Verärgerten.
„Ich habe gesehen, wie eine Faser in meine Brille eingedrungen ist“, sagt einer. „Ich habe beobachtet, wie eine sich in mein Kissen hineingebohrt hat“, fügt ein anderer hinzu. „Einer meiner Ärzte hält es für Nanotechnologie.“
Dann untersucht sich Margot mit ihrem 700 Dollar teuren Wi-Fi iPad-Teleskop. Mir kommt eine Idee. „Darf ich mal?“
Als ich die Linse in meine Handfläche drücke, sehe ich sofort eine Faser. Die Gruppe verfällt in angespannte Stille.
„Hast Du dir die Hand gewaschen?“, fragt Margot. Sie reicht mir ein antibakterielles Feuchttuch.
Ich reibe meine Hand ab und versuche es erneut. Ich sehe eine noch größere Faser.
Ich reibe noch einmal – und finde wieder eine.
Margot legt mir beruhigend die Hand auf den Arm. „Mach dir keine Sorgen, Will. Ich bin mir sicher, dass du nicht krank bist.“
Nachdem ich „Fasern“ auf meiner eigenen Hand gefunden habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich bei Morgellons um eine über das Internet verbreitete Zwangsneurose und bei den Fasern um alltägliche Partikel wie Baumwolle, Menschenhaare, Rattenhaare usw. handelt.“
2012 veröffentlichte die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC die Studie
Clinical, Epidemiologic, Histopathologic and Molecular Features of an Unexplained Dermopathy“
Die Forscher analysierten 115 Fälle von „Morgellonen-Erkrankung“ und bescheinigten den Betroffenen durchaus eine stark eingeschränkte Lebensqualität.
Allerdings fand sich keine übereinstimmende Ursache für ihr Leiden:
No common underlying medical condition or infectious source was identified, similar to more commonly recognized conditions such as delusional infestation.“
Anders gesagt:
Es spricht sehr viel dafür, dass die scheinbar aus der Haut wachsenden Fasern tatsächlich von außen an der nässenden oder eiternden Hautoberfläche kleben geblieben sind und bisweilen unter dem sich bildenden Schorf hängen blieben.
Zudem deuteten viele Biopsien darauf hin, dass die Hautstörungen durch ständiges Kratzen verursacht wurden.
Mehr als die Hälfte der Betroffenen litt der Untersuchung zufolge an psychischen Problemen, darunter auch Depressionen – das ist eine ungewöhnlich hohe Quote. Zudem maßen die Mediziner per Haarprobe, dass die Hälfte der Patienten kürzlich Drogen oder starke Beruhigungs- oder Schmerzmittel konsumiert hatte.
„Wir können nicht schlussfolgern, dass es sich bei diesem Hautleiden um eine neue Krankheit oder um eine weitere Ausprägung des Dermatozoenwahns handelt, mit dem es einige Merkmale teilt“, schreiben die Forscher.
Aber sie konnten anhand der Biopsien feststellen, dass es dort wenig zu finden gab, was ein Arzt konkret hätte behandeln können.
Da es keine eigene Therapie für die Morgellons-Krankheit gibt, schlagen die Forscher vor, andere diagnostizierte Störungen zu behandeln – also etwa Depression, Drogensucht oder Schmerzmittel-Abhängigkeit.“
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ein Jahr davor die Mayo Clinic:
Die Befunde der Studie erklären, warum die wissenschaftliche Gemeinschaft angesichts der neuen unbekannten Krankheit nicht aus dem Häuschen geraten ist. Denn höchstwahrscheinlich handelt es sich bei der Morgellonen-Krankheit einfach um eine neue Variante des sogenannten Dermatozoenwahns […]
Zwar war die Haut der Betroffenen häufig sehr trocken und belastet, entzündet und mitunter zu tiefen Verletzungen aufgekratzt, doch dies stammte von den verzweifelten Reinigungs- und Entfernungsversuchen mit Pinzetten, Nadeln oder chemischen Tinkturen.
Auch die mitgebrachten Beweisstücke hielten der Untersuchung nicht stand. Es handelte sich um Hautschüppchen, kleinste Haare oder Textilfasern. Ganze zwei Fruchtfliegen sowie eine Milbe und eine Zecke waren dabei.
Doch auch sie konnten nicht für das intensive Erleben und die schweren Symptome der Betroffenen verantwortlich sein.“
Eine weitere mögliche Erklärung schlägt die US-Neurologin und Neuropathie-Expertin Anne Louise Oaklander von der Harvard Medical School vor.
Ihrer Überzeugung nach leiden „Morgellon“-Patienten an einem chronischen Juckreiz, für den es keine Diagnose gibt:
Oaklander vermutet, der Mensch habe den Juckreiz instinktiv entwickelt, um sich vor gefährlichen Insekten zu schützen.
Wenn ein Moskito auf einem Arm landet und es kitzelt, rührt dieses Gefühl nicht direkt davon, dass das Insekt seine Beine gegen die Haut drückt. Es handelt sich tatsächlich um ein neurologisches Alarmsystem, bei dem es aus verschiedenen Gründen zu Störungen kommen kann: Gürtelrose, Ischias, Rückenmarkstumore oder -verletzungen, um nur ein paar zu nennen.
In manchen Fällen wird ein plötzlicher und intensiver Juckreiz ausgelöst, ohne dass irgendetwas die Haut berührt hätte. Oaklander glaubt, dass dies auch den Morgellons-Patienten widerfährt.“
Tatsächlich hat auch Joni Mitchell eine lange Krankenakte, die von Polio bis hin zu Depressionen und anderen psychischen Problemen reicht.
Laut einem Twitter-Tweet sei die Sängerin derzeit aber „awake and in good spirits“.
Zum Weiterlesen:
- What Is Morgellons? Singer Joni Mitchell’s Disputed Diagnosis, well/New York Times am 1. April 2015
- Was ist Morgellons? Joni Mitchell kämpft gegen rätselhafte Krankheit, Rolling Stone am 2. April 2015
- Rätselhafte Krankheit: Prominente Fans sorgen sich um Joni Mitchell, rp-online am 3. April 2015
- Joni Mitchell’s Mysterious Skin Disease: What Causes Morgellons? livescience am 2. April 2015
- Joni Mitchell’s mystery ailment revealed: Morgellon’s Disease sufferers claim they feel parasites crawling and biting under their skin before colorful fibers grow from the sores – but experts say it is a mental illness, Daily Mail am 3. April 2015
- The secret torment of Joni Mitchell, Daily Mail am 1. September 2014
- Morgellons, NeuroLogica am 22. Januar 2008
- Würmer sind nicht unter der Haut – sondern im Kopf, Welt-Online am 2. September 2011
- Morgellons-Krankheit: Schlimmes Hautleiden beruht wohl auf Einbildung, Spiegel-Online am 6. Juni 2012
- The Itch Nobody Can Scratch, Matter am 11. März 2014
- Qualvolle Fusselei, derFreitag am 27. Juni 2011
- Still more evidence that Morgellons disease is most likely delusional parasitosis, 2012 edition, Respectful Insolence am 26. Januar 2012
- Morgellons: Wahn oder Wirklichkeit? GWUP-Blog am 3. September 2011
4. April 2015 um 16:26
Ein Thema, bei dem sich die Medien hierzulande nicht immer mit Ruhm bekleckert haben, völlig unkritisch z.B. http://www.tz.de/muenchen/stadt/egling-verzweiflungstat-wegen-raetselhafter-krankheit-mein-soll-nicht-umsonst-sein-tz-878295.html
4. April 2015 um 20:58
Seit ca. einem Jahr leide ich unter einer „Kälteurtikaria“…leider ist sie innerhalb eines Jahres nicht verschwunden.
Ich schlucke Antihistaminika, dadurch ist das nicht so wild, aber bei starker Kälteexposition kann es doch zur Quaddelbildung und starkem Juckreiz kommen…
Wenn ich es nicht besser wüßte, könnte ich auch sagen ich hätte die „Morgellen-Krankheit“ ;-)
14. Oktober 2019 um 20:35
Dermatozoenwahn: Wenn’s im Körper krabbelt
https://www.nationalgeographic.de/science-innovation/dermatozoenwahn-wenns-im-koerper-krabbelt