Dritte Frage: Ist die Übersetzung korrekt?
Nostradamus kreierte für die „Centurien“ eine poetisch-hermetische Symbolsprache, ohne freilich ein wirklich begabter Poet zu sein. Dass seine Werke dennoch den Eindruck einer geheimnisvollen Komposition aus Druckerschwärze und Sternenstaub erwecken, liegt zuvörderst an ihrer – eigentlich unbeholfen zu nennenden – grammatikalischen Willkür und der Vermengung einer Vielzahl dichterischer Stilmittel und Manierismen, noch dazu überfrachtet mit biblischen Krypto-Zitaten sowie geografisch-historisch Anspielungen.
Schon 1882 schrieb ein französischer Nostradamus-Kritiker: „Der Stil der Centurien ist so vielgestaltig und so nebelhaft, dass ein jeder, der ein wenig Anstrengung und guten Willen aufbringt, in ihnen das findet, was er sucht.“
Dieses Urteil gilt umso mehr für die Übertragung der „Centurien“ in eine andere Sprache als das ursprüngliche Altfranzösisch, etwa ins Deutsche. Nostradamus-Autoren betätigen sich in aller Regel eher als eine Art Ghostwriter des „Sehers“ denn als Übersetzer und verfallen – bewusst oder unbewusst – in den Fehler der so genannten subjektiven Gültigkeitserklärung: also der Neigung, sinnvolle Muster in eine unklare, unverständliche Vorlage hineinzusehen und schließlich zu glauben, sie seien objektiv Bestandteil der Vorlage.
Vergleichen wir also die Übersetzung, die Jean-Charles de Fontbrune für den Sechszeiler 53 abliefert, mit den wenigen sonstigen deutschen Übersetzungen, die für diese „andere Voraussage“ des Nostradamus überhaupt verfügbar sind:
Plusieurs mourront avant que Phoenix meure,
Jusques six cens septante est sa demeure,
Passé quinze ans, vingt et un, trente-neuf,
Le premier est subject à maladie,
Et le second au fer danger de vie
Au feu à l’eau est subject trente-neuf.“
Fontbrune übersetzt:
Viele werden sterben, bevor der Phönix stirbt.
Er wird 670 [Monate] auf Erden wohnen,
während die Jahre [19]15, [19]21 und [19]39 vorüberziehen werden.
Im ersten [1915] wird er erkranken
und im zweiten [1921] wird er eine lebensgefährliche Streitmacht haben;
[19]39 wird eine feurige Sintflut ausbrechen.“
Der Schweitzer Historiker Jean-Claude Pfändler übersetzt hingegen:
Einige werden sterben, bevor Phönix stirbt.
Bis 670 dauert sein Verweilen.
Nachdem er die 15 Jahre, die 21 und 39 Jahre hinter sich gebracht hat.
Beim ersten Mal ist er einer Krankheit unterworfen
und beim zweiten Mal dem Eisen, wobei Lebensgefahr besteht.
Dem Feuer und dem Wasser ist er mit 39 Jahren unterworfen.“
Der in Paraguay lebende deutsche Journalist und Autor Ray Nolan folgt dieser Lesart weitgehend:
Mehrere werden sterben bevor der Phönix stirbt,
bis Sechshundertsiebzig ist sein Absterben,
vergangen fünfzehn Jahre, einundzwanzig, dreißig-neun (39),
der Erste ist Gegenstand der Krankheit,
und der Zweite des Schwerts, Lebensgefahr,
zum Feuer in das Wasser, ist Ursache dreißig-neun.“
Schon diese zwei Alternativ-Versionen machen überdeutlich, dass Fontbrune nicht redlich übersetzt, sondern unzulässig interpretiert – und dass bei halbwegs korrekter Bearbeitung des Sechszeiler 53, ohne kreative Veränderungen beziehungsweise Hinzugedichtetes, Hitler und der Zweite Weltkrieg in weite Ferne rücken.
Spätestens hier, bei unserer dritten Frage, ist der nostradamistische „Hitler“-Vers von Jean-Charles de Fontbrune als Wunschdenken und/oder Geschäftemacherei entlarvt (Fortsetzung folgt).
Links zu den anderen Teilen der Serie „Wie analysiert man Nostradamus-Verse?“: Teil I | Teil II | Teil IV
27. April 2010 um 10:02
Wie kommt man eigentlich von „six cents“ auf 670, sechshundert-SIEBZIG ?
27. April 2010 um 18:31
@derpfle: Da haben Sie Recht, sehr aufmerksam. Mein Fehler – und korrigiert.