Wieso wundern wir uns eigentlich über „Apfeltorte mit Bologneser Sauce“ (= „Integrative Medizin“)- Geschichten in bild der wissenschaft, wenn selbst die berufsständische Selbstverwaltung der Ärzte Werbung für Kooperationen mit Esoterikern macht?
Das Ärzteblatt (4/2017) der Ärztekammer Schleswig-Holstein gefällt sich darin, die „ganzheitliche Betreuung“ von Patienten einer Kinderarztpraxis durch die Zusammenarbeit mit einer „Heilerin“ ausführlich zu preisen – von jedweder kritischen Rückfrage ungetrübt.
„Das ist auf so schrecklich vielen Ebenen unpassend“, möchte man da eigentlich nur noch Charlie Harper zitieren.
Man muss auch bedenken, dass ich in der Kinderarztpraxis mit den vielen Patienten nur eine sehr begrenzte Zeit habe. Fünf bis zehn Minuten pro Patient, manchmal auch weniger. Da kann man manche Ansprüche, für die man etwas länger Zeit bräuchte, nicht immer erfüllen“,
erklärt die Pädiaterin zum Beispiel.
Und anstatt diesen realen Missstand anzuprangern und von der Politik Abhilfe zu fordern, besteht der Lösungsvorschlag der ÄKSH in pseudomedizinischen Praxiskooperationen?
Jedenfalls darf die Ärzeblatt-Autorin den ideologischen Kampfbegriff „Schulmedizin“ sowie inhaltsleere esoterische Phrasen wie „energetische Heilbehandlung“ oder „spirituelle Arbeit“ verwenden und Nonsens wie Homöopathie und Mentaltraining einbringen.
Natürlich dürfen auch die „persönlichen Erfahrungen“ der Praxisinhaberin mit „tibetanischem Heilwissen“ bei Migräne nicht fehlen (Lesetipp: „Warum meine Erfahrung nicht zählt“) – die bei Licht betrachtet anscheinend auf einer Placebo-Wirkung (Akupunktur) plus Entspannung und Elimination von ernährungsbedingten Einflüssen beruhen.
Fraglich, ob für man solche Erfolge einen esoterischen Überbau und eine „Heiler“-Kooperation braucht. Oder ob gar, wie es die Autorin formuliert, bei solchen und anderen Fällen wirklich „die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt“.
Und mit der Unvereinbarkeit von evidenzbasierter Medizin und “alternativer” Medizin haben wir uns hier bereits ausführlich beschäftigt.
Die „Heilerin“ ist marketingtechnisch fraglos dazu zu beglückwünschen, dass sie es nach der Lokalpresse nun auch (mit Foto) in die ärztlichen Fachmedien schafft.
Die Ärzteblatt-Redaktion indes sollte eigentlich wissen:
Statt Alternativmedizin braucht Deutschland eine Medizin, die Patienten auf der Basis wirksamer Therapien und Medikamente behandelt. Der Placeboeffekt gehört dazu. Homöopathische Arzneien nicht.”
Zum Weiterlesen:
- Integrative Medizin in „Bild der Wissenschaft“: Apfeltorte mit Bologneser Sauce, GWUP-Blog am 24. Februar 2017
- Warum „meine Erfahrung“ nicht zählt, Homöopathie neu gedacht am 1. Oktober 2015
- Homöopathie, Ganzheitlichkeit und die sprechende Medizin, GWUP-Blog am 20. April 2013
- Ein „Bund“ zwischen Ärzten und Heilpraktikern? Das freut nur die Pseudomediziner, GWUP-Blog am 21. Juni 2015
21. April 2017 um 11:25
Solange so etwas in Medien noch gepriesen statt geächtet wird, bleibt für die Skeptiker noch viel zu tun.
Ansonsten: Ohne Worte. Zulassung entziehen? Redaktion“Ärzteblatt“ entlassen? Rücktritt und Neuwahl bei der ÄK Schleswig-Holstein? Oder doch ein spontaner Gastauftritt beim Weltkongress der Hömöopathie in Leipzig, der steht immerhin unter dem schönen Motto: „Networking in Medical Care“. Sic.
21. April 2017 um 13:51
Schon wieder dieser ätzende Mythos von der „ganzheitlichen“ Behandlung, die angeblich nur die Alternativmedizin leisten könne. Was für ein Unsinn!
Jeder sogenannte Schulmediziner behandelt seine Patienten ganzheitlich, selbst wenn er „nur“ einen eingewachsenen Zehennagel heraus operiert – denn da hängt auch noch der restliche Patient dran, der von der Entfernung des Störenfrieds ganz und gar „ganzheitlich“ profitiert. Und wer Aspirin einnimmt, wirkt nicht nur auf sein Schmerzsystem ein, sondern beeinflusst auch noch die Blutgerinnung, den Magen, die Leber, die Nieren, das Herz, den Darm, das Nervensystem… na, wenn das nicht ganzheitlich ist, weiß ich auch nicht!
Aber Spaß beiseite, viele Ärzte sind so auf das Helfen fixiert, dass sie den Bezug zur (leider oft frustrierenden) Realität in der Medizin verlieren und meinen, sie müssten zum Wohl ihrer Patienten auf irrationale Mittel zurückgreifen, nur um das Gefühl zu wecken, es würde „alles“ getan.
Im übrigen steht es der Frau Kollegin frei, ihre Patienten länger als fünf bis zehn Minuten zu behandeln – sie muss dann halt privat kassieren, so wie es die „Heilerin“ auch tut (dies allerdings ausschließlich zu ihrem eigenen Wohl).
21. April 2017 um 16:36
Das trifft es:
„Wenn homöopathisch behandelte Patienten gezwungen wären, bis zum Schluss bei der Homöopathie zu bleiben, würde sich schnell herausstellen, wie wenig wirksam die Homöopathie ist.
Nun ist die Vorgehensweise der „guten“ Homöopathen aber so, dass sie Patienten zur Medizin rücküberweisen, wenn sie merken, dass die Homöopathie erfolglos bleibt.
Natürlich ist das gut für die Patienten. Es ist aber auch gut für die Homöopathie, denn wenn auch die Medizin keine Möglichkeiten mehr hat (und das ist leider so: es gibt immer noch unheilbare Krankheiten), dann wird die letztendliche Erfolglosigkeit dem letzten Behandler – also der Medizin – in die Schuhe geschoben.
Kein Wort davon, dass eine früher einsetzende, korrekte medizinische Therapie wahrscheinlich erfolgreich gewesen wäre und der Misserfolg von der Homöopathie zu verantworten ist.
Man ist eben erfolgreicher, wenn man für Misserfolge die Verantwortung ablehnt – auch, wenn das ungerechtfertigt ist.
Es merkt ja keiner …“
http://www.netzwerk-homoeopathie.eu/faq/29-warum-wirkt-homoeopathie
21. April 2017 um 17:26
Wow, die Heilerin ist ne echte Granate:
„Gürtelrosen behandel ich energetisch. Außerdem betrachte ich gern mit Menschen ihre Lebensthemen.
Mir macht es große Freude originelle Lösungen für Konflikte und Blockaden zu finden, für die ich ggfs in das Familiensystem eintauche.
Durch die Geburt meiner Tochter 1997 bin ich auf den Weg gekommen.
Sie ist als sehr hellfühliges, hellsichtiges und hellhöriges Menschenkind auf die Welt gekommen.
Das Buch „Hochsensible Kinder“ von Antje C. Hofmann gab mir Erklärung für meine Tochter und mich selbst.“
Ist diese Ärztin eigentlich noch ganz bei trost???
21. April 2017 um 17:29
@crazyfrog:
Vielleicht meint sie „Gartenrosen“.
Gegen Herpes zoster-Juckreiz möchte die „Energien“ der Dame mal sehen …
21. April 2017 um 17:32
@crazyfrog:
<< Das Buch „Hochsensible Kinder“ von Antje C. Hofmann gab mir Erklärung für meine Tochter und mich selbst. << Als wenn wir's nicht geahnt hätten - eine "Indigo"-Schwärmerin: "Kinder eines neuen Zeitalters' werden sie genannt, 'Menschen aus der Zukunft' oder 'Vorboten eines grundlegenden Bewusstseinswandels" Unfassbar, dass so jemand mit einer Kinderärztin zusammenarbeitet. Bzw. umgekehrt.
21. April 2017 um 20:51
Habe ich das richtig verstanden, dass diese fragwürdige Dame nicht mal Heilpraktikerin ist?
21. April 2017 um 21:13
@Ute Parsch:
Offenbar nicht – aber was macht das schon, bei so einer Karriere:
„Vom Abitur 1987 bis zum 29. Lebensjahr habe ich nach meiner Berufung gesucht, die dann in Form meiner Tätigkeit als Heilerin Erfüllung fand.“
22. April 2017 um 07:36
Minderheitsvotum. Wenn eine Firma stur und nachhaltig die „richtigen“ Produkte herstellt, die aber keiner haben will, macht sie pleite. Ihr habt alle wunderbare Ratschläge für die Ärztin, steckt aber nicht in ihren Schuhen. Und „Zustände anprangern“ hilft ihrer Praxis nicht.
Dass sie das evtl(?) nicht tut, dass das Ärzteblatt den eigenen Berufsstand als „Schulmedizin“ verunglimpft, dass Qualifikation und Tätigkeitsfelder der „Heilerin“ unsäglich sind usw usw: Ja.
Die Medizin (die Heilkunst) ist in erster Linie ein Reparaturbetrieb, ja. Plus Impfungen, nicht vergessen. Aber die Kundschaft möchte eben ganzheitlich wellnessorientiert beraten werden – Bewegung, Ernährung, positives Denken (*schauder). Irgendwo habe ich von 18 Arztkontakten pro Patient und Jahr in Deutschland gelesen. Mit Schnupfen morgens um zwei in die Notaufnahme. Wo immer das herkommt, es zwingt die Praxen zur Abfertigungsmedizin, und das Vergütungssystem macht alles nur noch schlimmer.
So wie ich, zumindest in Städten, als Laie Polikliniken für die beste Form der medizinischen Alltagsversorgung halte (Allgemein- und Fachärzte unter einem Dach mit ein paar wenigen Betten), kann ich der hier gewählten Art einer Praxisgemeinschaft unter den gegeben Umständen durchaus was Positives abgewinnen, wenn auch die konkrete Form und die konkrete Darstellung verurteilenswürdig sind.
Doch wenn man das Heilpraktikerunwesen nicht los werden kann, ist es doch besser, wenn die unter direkter ärztlicher Aufsicht arbeiten, oder nicht?
22. April 2017 um 09:20
@2x…, nein denn dieser „ärztin“ traue ich auch nicht zu die andere irre zu bändigen. daher beide weg, ist für die gesundheit der kinder die einzige lösung. der einfluß der durchgedrehten ärztin auf hilflose und ahnungslose mütter und damit auf die kinder ist mißhandlung.
und bitte nicht vergessen die überwiegende mehrheit der ha-praxen leistet hervorragende arbeit.
22. April 2017 um 09:26
@ 2xhinschauen:
„Polikliniken … mit ein paar wenigen Betten“
Meinen Sie wirklich Kleinstkrankenhäuser zur stationären Versorgung? Dann empfehle ich einen Blick in den Krankenhaus-Report 2017 von Klauber et al. zur Mindestmengendiskussion. Oder meinten Sie eigentlich Praxisgemeinschaften, MVZs etc., also Kooperationsformen der ambulanten Versorgung?
22. April 2017 um 17:58
@ 2x hinschauen:
„Ihr habt alle wunderbare Ratschläge für die Ärztin, steckt aber nicht in ihren Schuhen. Und “Zustände anprangern” hilft ihrer Praxis nicht.“
Ich stecke durchaus in diesen Schuhen: ich habe vor über 6 Jahren meine Landarztpraxis übernommen – und zuerst gleich mal allen pseudomedizinischen Schnüss, den mein Vorgänger im Sortiment hatte, rausgeschmissen und die Zusammenarbeit mit den örtlichen „Naturärzten“ (so nennt man hierzulande die Heilpraktiker) und „Heilern“ aufgekündigt.
Hat mich zwar eine Menge Patienten gekostet, so dass ich zwischendurch mal haarscharf vor der Insolvenz stand (eine Situation, in der mein Treuhänder und meine Bankberaterin mir dringend ans Herz gelegt haben, der „Alternativmedizin“ doch eine Chance zu geben – ich habe daraufhin Treuhänder und Bank gewechselt!), hat aber im Endeffekt funktioniert.
Man muss nur wollen. Und einen langen Atem haben.
Und ich kann bis heute jeden Morgen in den Spiegel schauen, ohne zu kotzen.
22. April 2017 um 18:29
Zitat nota.bene
Ja, das ist wohl mit jedem derzeitigen Medikament so…aber, wenn https://de.wikipedia.org/wiki/Nanobot Realität sind (sind sie jetzt schon, anfangsweise), dann kann Medizin wirklich auch „medikamentös“ gezielt in den Organismus einwirken…hoffentlich haben wir uns bis dahin nicht schon selbst „neutralisiert“ ;-)
22. April 2017 um 18:32
Zitat nota.bene
Ja, das ist wohl mit jedem derzeitigen Medikament so…aber, wenn Naniten/Nanobots Realität sind (sind sie jetzt schon, anfangsweise), dann kann Medizin wirklich auch “medikamentös” gezielt in den Organismus einwirken…hoffentlich haben wir uns bis dahin nicht schon selbst “neutralisiert” ;-)
23. April 2017 um 17:28
@Joseph Kuhn
Oder meinten Sie eigentlich Praxisgemeinschaften, MVZs etc., also Kooperationsformen der ambulanten Versorgung?
Ja. Ein paar Betten für den Fall, dass jemand z.B. nach einer ambulanten OP zur Beobachtung dableiben muss. Keine stationäre Aufnahme.
@noch’n Flo
Gerade Du warst nicht gemeint mit den Schuhen, aber Dein Kommentar kam ja auch nach meinem :-) Und Du hattest mal berichtet, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz anders tickt als in D, sowohl bei der Anzahl Patientenkontakte als auch bei der Versicherung und der Vergütung.
Ich hätte vielleicht präzisieren sollen, dass ein Heilpraktiker nicht allein deshalb ein gefährlicher „Alternativ“-Quacksalber sein muss. Ebenso garantiert die Approbation ja nicht für eine Mindestanzahl Tassen im Schrank. Und ich hatte „wenn“ geschrieben – wenn es nicht anders geht ( = Priorität haben andere Lösungen, die aber komplexer sind ), dann eben so.
24. April 2017 um 10:56
Und guck mal, gerade werden nebenan von ernstzunehmenden Leuten unter Stichworten wie „Gemeindeschwester“ und „Genesungsbegleiter“ Konzepte erörtert, wie man die Arbeit von Nicht-Approbierten in die praktizierte Medizin integrieren könnte. Unter ärztlicher/wissenschaftlicher Aufsicht und natürlich minus Pseudomedizin und Quantenheilereieiei.
https://blog.gwup.net/2017/04/21/neuerscheinung-abwarten-ist-oft-die-beste-medizin/#comments
Es wäre dies natürlich eine Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs der Medizin vom „Reparaturbetrieb“ hin zu Prävention, Beratung, Begleitung usw., aber es würde eben auch den Publikumserwartungen besser entsprechen.
24. April 2017 um 12:00
@ 2x hinschauen.
sorry auch für die eben erwähnten, da muß überhaupt nichts erfunden werden. das gibt es alles jedenfalls in d.
die bezeichnung ist zb wundassistent/in, gefäßassitent/in usw.
es sind fertig ausgebildete krankenschwestern die die entsprechende weiterbildung machen.(theoretisch und praktisch)
war zb sogar vor kurzem im tv-film eifelpraxis zu sehen.
und ich habe damit im kh hervorragende bekanntschaft gemacht,
sie sind außerhalb des normalen schwesterndienst und verbinden, bereiten wunden zur op vor,ziehen fäden und klammern, sind dabei auch für fragen offen, und die ärzte haben dadurch zeit für op ect.
„und“ sind durch ständige weiterbildung immer auf dem absolut neuesten stand.(und zeigt den patienten und deren partnerin vor der entlassung wie verbunden wird)
diese spezis stecken jeden hp mit links in die tasche denn sie wissen worauf es ankommt. hps braucht es nicht, in anderen ländern ist die gesundheitliche versorgung genauso gut ohne hps– mit sicherheit besser.
24. April 2017 um 19:06
@diabetiker et al
Gut, wenn es schon Evidenz und Praxiserfahrungen für die vorgeschlagenen Konzepte gibt. Es ist besser und erfolgversprechender, für etwas einzutreten als platt gegen einen Zustand.
Wie wollen den ganzen Heilis ja nicht grundsätzlich an den Arbeitsplatz.
25. April 2017 um 13:20
Uiuiui, Akupunktur als Placebobeispiel wäre mir zu heikel.
25. April 2017 um 13:53
@tintifax:
Ich denke, kann man vertreten:
<< Studien zur Bewertung der Akupunktur sind durch große methodische Probleme belastet. Und leider ist das Ergebnis dieser Studien sehr widersprüchlich. Ein bedeutsamer Therapieeffekt kann in diesen Studien nicht nachgewiesen werden. Sicher ist jedoch, dass die Migränehäufigkeit oft in der ersten Zeit einer Akupunkturbehandlung abnimmt. Hierin unterscheidet sich die Akupunktur jedoch nicht von einer Behandlung mit einem wirkstofffreien Placebo. << http://www.schmerzklinik.de/service-fuer-patienten/migraene-wissen/unkonventionelles/
25. April 2017 um 14:16
Schon älter, aber (damals) eindeutig:
http://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/akupunktur-hilft-gegen-migraene-nur-wie-ein-placebo/2555542.html