Neue Therapiemöglichkeiten bei psychischen Störungen, Neuroprothesen wie etwa die künstliche Netzhaut, bessere Lernkonzepte für Schulen, aber auch eine Revolution unseres Menschenbildes – all das prophezeiten elf Hirnforscher 2004 im „Manifest zur Lage der Hirnforschung“, veröffentlicht in der Zeitschrift „Gehirn & Geist„. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand indes eine Bestandsaufnahme dessen, was ihr Fach in den vorhergehenden Jahren an Erkenntnis gewonnen hatte. Und das ist tatsächlich enorm. Immer mehr verdichten sich die Hinweise, dass Geist und Bewusstsein auf natürliche Prozesse zurückgeführt werden können und sich, genau wie körperliche Merkmale, im Laufe der Evolution entwickelt haben. Nicht umsonst nennen die Autoren dies die „vielleicht (…) wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften“.
Vor genau diesem reduktionistischen Statement warnt der prominente Theologe und Ratzinger-Kritiker Hans Küng. Er vermisst eine „empirisch nachprüfbare Theorie über den Zusammenhang von Geist und Gehirn“. Dass Küng bei einem Gegenentwurf zum reduktionistischen Modell der Hirnforschung an eine gottgegebene Seele denkt, ist offensichtlich – allerdings räumt er seinem Gott damit die undankbare Rolle eines Lückenbüßers ein.
Grundsätzlich zeugt Küngs Kritik von einem fundamentalen Missverständnis ggenüber der Hirnforschung, wie Kuno Kirschfeld jetzt in einem Beitrag für „Gehirn & Geist“ zeigt. Der Neurobiologe Kirschfeld war bis zu seiner Emeritierung Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen.
Tatsächlich gehen die Autoren des „Manifests“ davon aus, dass sich alle geistigen Vorgänge – etwa das, was wir beim Betrachten eines Bildes erleben – auf physiologische Prozesse zurückführen lassen. Allerdings lässt sich der Geist im Gegensatz zum Gehirn nicht mit physikalischen Mitteln untersuchen. Zwar kann man elektrische Signale messen, die beispielsweise beim Anschauen eines Bildes vom Gehirn erzeugt werden. Aber um etwas über die subjektiven Wahrnehmungen der Versuchspersonen zu erfahren, sind Wissenschaftler auf deren Mitteilungen angewiesen.
Dieses Zusammenspiel von Gehirn und Geist aber interessiert die Hirnforscher. Und je mehr sie sich damit beschäftigen, desto deutlicher wird eben der reduktionistische Ansatz bestätigt. Wenn eine Person über ihre Wahrnehmungen berichtet, scheint dies zwar zu zeigen, dass die Wahrnehmung (Geist) das Gehirn (motorisches Sprachzentrum) beeinflusst. In Wahrheit ist es umgekehrt: die Wahrnehmug kommt – genau wie die Aktivierung des motorischen Zentrums – erst durch Aktivität des Gehirns zustande, das Gehirn beeinflusst also den Geist.
Dies zeigt Kirschfeld in einem Gedankenexperiment: Nehmen wir einen Geist an, der unabhängig vom Gehirn, außerhalb der physikalischen Welt, existiert. Könnte solch ein Geist das Gehirn beeinflussen, käme es zu Hirnaktivität ohne erkennbare Ursache. Dies aber widerspricht allen Beobachtungen der Hirnforscher. „Könnte der Geist auf das Gehirn einwirken, und wäre dies beweisbar, so entspräche dies einer sehr viel größeren Revolution der Physik, als es die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren“, ist Kirschfeld überzeugt.
Wie und warum das Gehirn den Geist überhaupt hervorbringt, ist den Forschern bislang jedoch ein Rätsel. Insofern fehlt tatsächlich noch eine empirisch überprüfbare Theorie zum Zusammenhang von Gehirn und Geist, wie Küng schreibt. Er irrt allerdings, wenn er daraus eine Warnung vor der reduktionistischen Interpretation ableitet. Denn aus einer fehlenden Theorie über den Zusammenhang von Gehirn und Geist folgt keineswegs, dass es „mehr“ geben müsse als die physiologischen Prozesse im Gehirn.
Vorsicht ist also nicht gegenüber dem reduktionistischen Ansatz angebracht, sondern gegenüber voreiligem Stopfen von Wissenslücken durch unbewiesene Behauptungen, wie Kirschfeld am Beispiel des geozentrischen Weltbildes und der „Lebenskraft“ (vis vitalis) zeigt. Sobald diese unbewiesenen, meist durch Religion oder Weltanschauung festgelegten Behauptungen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegt wurden, kam es zum Konflikt. Heute sind das geozentrische Weltbild und die „Lebenskraft“ aus der Diskussion verschwunden. Bewährt hat sich der wissenschaftliche Reduktionismus, der die Phänomene auf einfache, bereits bekannte Mechanismen zurückführt.
Es zahlt sich also aus, Lücken im Wissen auszuhalten, statt sie mit Flickwerk zu stopfen. Warum wir uns indes faszinieren lassen von ästhetischen Bildern, diese Frage gibt Kirschfeld zu Recht an andere wissenschaftliche Disziplinen weiter: Soziobiologen vor!
Links zum Thema:
Das Manifest: Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung
Die Autoren des Manifests
Das Manifest: fünf Jahre danach
Homepage von Prof. Kuno Kirschfeld
Zum Weiterlesen:
Küng, H. (2005) : Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion. Piper, München.
3. August 2009 um 12:59
So wird in dem Text die Aussage von Prof. Kirchfeld wiedergegeben, in dem MANIFEST „elf führender Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ von 2004 bleibe diese Frage „ungeklärt“, also schlicht unbeantwortet.
Dem kann leicht abgeholfen werden; denn der gemeinte Sachverhalt ist an sich schon vor dem Erschienen des an vielen Stellen, wie Prof. Kirschfeld kritisch anmerkt, „kryptischen“ Manifests geklärt gewesen: das angebliche „Rätsel“ ist selbstgemacht oder besser gesagt sprachbedingt!
Hirnforscher folgen nämlich unbemerkt heute immer noch der alten Metaphysik des ursprünglich theologischen „Dualismus“ von Körper und Seele, der sich über einige historische Zwischenstationen in der geläufigen umgangssprachlichen Redeweise vom Gehirn und einem dazu separaten Geist niedergeschlagen hat.
Man kann nur staunen, in welchem Ausmaß gestandene Wissenschaftler schlichter Alltagspsychologie folgen statt sich ihrer Terminologie eigens zu vergewissern. Dabei dürfte den meisten Menschen heute geläufig sein, dass „geistig“ genannte Tätigkeiten wie Vorstellen (s. dazu Colin McGinn „Mindsight“, dt. „Das geistige Auge – Von der Macht der Vorstellungskraft“) und jene des Aufmerkens, Aufpassens, Achtgebens, sich Konzentrierens usw., die gemeinhin als „Aufmerksamkeit“ bezeichnet wird, nicht von einem ominösen „Geist“ stammen oder ausgeführt werden, sondern von uns selbst und zwar, wie jeder weiß, „mit“ dem Hirn, exakt so wie wir „mit“ einem Arm winken oder „mit“ den Beinen gehen, „mit“ der Lunge atmen, „mit“ den Augen sehen usw. usf. – wie immer wir das im Einzelnen auch genau machen! Ersichtlich können wir, und tun wir das seit jeher auch, sämtliche Formen eigener Aktivität ohne Rücksicht darauf, wie wir diese Tätigkeiten ‚eigentlich‘ ausführen, voneinander unterscheiden und benennen.
Ein Adjektiv wie „geistig“ zur Charakterisierung bestimmter eigener Tätigkeiten zu einem groß geschriebenes Substantiv mit zusätzlichem Artikel wie „der“ oder „ein Geist“ zu versachlichen (oder zu „reifizieren“), macht aus unseren geistigen Fähigkeiten weder eine Sache noch ein Ding, auch keine eigene Entität oder „Substanz“, so wenig wie aus dem Verb etwas zu „tun“ ein davon verschiedenes eigenes Tun oder gar eine davon separate Tat wird. In der Alltagspsychologie kommen Missverständnisse dieser Art allerdings häufig vor. So werden Gedanken nicht ohne weiteres mit dem eigenen Denken gleichgesetzt und deswegen auch nicht durchgehend als einzelne gewohnheitsmäßig oder bewusst selbst vollzogene Denkakte angesehen. Nach der geläufigen Küchenpsychologie sollen Gedanken einem wie selbständige Wesen „kommen“ oder „einfallen“, einen sogar „bedrängen“ oder auch „verfolgen“ können, so dass sie einem „keine Ruhe lassen“, weil sie einem angeblich endlos „im Kopf herumgehen“: als wenn „sie“ ein Eigenleben „in“ unserem Inneren oder spezifischer „in“ unserem Kopf führen würden.
Hirnforscher in ihrer „Sprachvergessenheit“, wie der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich derart naiv-unreflektierten Sprachgebrauch in seinem neuen Buch „Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnforschung“ nennt, folgen derartigen alltagspsychologischen Denkfiguren in geradezu sämtlichen umgangssprachlichen Variationen. Folge davon ist eine in der Hirnforschung weit verbreitete „cerebrale Pseudopsychologie“, nach der wir nicht mehr als Personen oder Subjekte, also als einzelne Menschen wahrnehmen und fühlen, erinnern, überlegen und entscheiden, planen und unsere Absichten und Ziele bewusst und gezielt und damit willentlich „in die Tat“ umsetzen usw.; nach Ansicht vieler Hirnforscher „tun“ all das an sich oder ‚eigentlich‘ unsere Hirne!
Sprachliche Verschiebungen dieser Art führen logisch zwingend dann zu dem Anschein, als ob Gehirne oder ihre „Verschaltungen“ festlegen, was ihre Träger so alles machen – als sozusagen ausführende Organe eines ihrer eigenen Organe. Auf körperlicher Ebene taucht somit jener Dualismus wieder auf, der früher zwischen Materie oder Körper und Geist etabliert wurde und heute zwischen Gehirn und einem verdinglichtem Geist behauptet wird!
Die unzähligen unsinnigen Folgen dieser cerebralen Pseudopsychologie waren schon vor Erscheinen des MANIFEST’s analysiert worden. Die Ergebnisse wurden ein Jahr davor in dem Buch „Philosophical Foundations of Neuroscience“ von dem hoch angesehenen australischen Hirnforscher Maxwell R. Bennett publiziert, das er in Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit dem Oxforder Philosophen Peter M.S. Hacker geschrieben hat. Das Manifest war bei seinem Erscheinen 2004 deswegen eigentlich schon überholt. Dass die beiden im englischen Sprachraum hoch angesehenen Wissenschaftler die von ihnen angestoßene Diskussion 2008 in ihrem Buch „History of Cognitive Neuroscience“ weiter führen und damit das neue Buch von Janich fachspezifisch ergänzen, sei der Vollständigkeit halbe noch erwähnt.