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Geht der Medizin-Nobelpreis 2015 an die Traditionelle Chinesische Medizin?

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Wenn am 10. Dezember in Stockholm die Nobelpreise verliehen werden, steht angeblich auch die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) auf dem Siegertreppchen.

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Das war nicht nur einer der zahlreiche Fehlschlüsse des Herrn Professor Jütte im WDR-Homöopathie-Talk am vergangenen Sonntag – auch im Internet wird der Medizin-Nobelpreis 2015 dreist der TCM umgehängt.

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Was hat es damit auf sich?

Die Auszeichnung geht in diesem Jahr zur Hälfte an die chinesische Pharmakologin Youyou Tu von der Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin in Peking:

Youyou Tu, geboren 1930, schuf mit ihrer Arbeit die Grundlage, um die durch den einzelligen Parasiten Plasmodium ausgelöste Tropenkrankheit Malaria zu bekämpfen“,

schreibt die FAZ.

Aus Artemisia annua, dem Einjährigen Beifuß, einer Heilpflanze der Traditionellen Chinesischen Medizin, gewann sie in den siebziger Jahren die Substanz Artemisinin, die gegen Malaria wirksam ist.“

So weit, so unspektakulär.

Aber, ergänzt der Science-Blog GeoGraffitico

… Tu ist eben nicht nur zufällig oder gar unfreiwillig im Umfeld der Traditionellen Chinesischen Medizin gelandet – sie fühlt sich der TCM tief verbunden. Und gewiss hätte sie ihre Entdeckung nicht – oder vielleicht, wenn überhaupt, nur sehr viel später – gemacht, wenn sie nicht in einem damals rund 400 Jahre alten Manuskript einen entsprechenden Hinweis gefunden hätte.“

Und das macht nun die pseudomedizinische TCM mit einem Paukenschlag salonfähig?

Natürlich nicht.

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Edzard Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin, kommentiert:

Man könnte sogar argumentieren, dass Youyou Tu gezeigt hat, wie unzureichend TCM ist.

Artemisinin wurde in der Traditionellen Chinesischen Medizin nicht gegen Malaria eingesetzt, sondern um Fieber zu senken. Der Pflanzenstoff ist gar nicht potent genug, um Malaria heilen zu können. Er wurde also mitnichten zur Bekämpfung einer Krankheit herangezogen, sondern um ein Symptom zu lindern. TCM-Heiler hatte keine Ahnung, was Malaria überhaupt ist, wodurch sie hervorgerufen wird und man sie heilt.

Es brauchte eine kompetente Fachwissenschaftlerin, ein modernes wissenschaftliches Instrumentarium und systematische Forschung, um diese Fragen zu beantworten.“

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Genau so sieht das auch Science-Based Medicine:

Tatsächlich ist die diesjährige Nobelpreisverleihung eine Fallstudie über die Schwächen und Begrenztheiten „alternativer“ Konzepte wie TCM und sie zeigt zugleich auf, wozu wissenschaftsbasierte Medizin in der Lage ist […]

Artemisinin selbst ist als Arzneimittel wenig effektiv, da es im Körper sehr schnell abgebaut wird. Letztendlich war es niemand anderes als die Pharmaindustrie, die Artemisinin zu einem wirksamen Medikament formte […]

Pharmakognosie ist das Fachgebiet, welches dafür sorgt, dass pflanzliche Ausgangsstoffe zu pharmazeutisch wirksamen Dosen in Form von Tabletten, Salben oder Injektionen mit verlässlicher Qualität weiterverarbeitet werden. Die wissenschaftsbasierte Medizin verwendet keine reinen Pflanzengifte wie Opium, Belladonna oder Digitalis, weil das viel zu unsicher und gefährlich wäre. Sobald die Molekülstruktur des Naturstoffs identifiziert und isoliert worden ist, machen sich Biochemiker daran, die Substanz zu synthetisieren, zu modifizieren und schließlich zu standardisieren.

Eben dies ist mit dem sekundären Pflanzenstoff Artemisinin geschehen [der halbsynthetisch durch photochemische Oxidation aus fermentativ produzierter Artemisininsäure hergestellt wird].

Was also hat die Entdeckung der diesjährigen Nobelpreisträgerin mit Traditioneller Chinesischer Medizin zu tun? Gar nichts, denn TCM ist und bleibt ein vorwissenschaftliches naturphilosophisches Konzept, das auf einer imaginären Lebenskraft beruht.“

Das alles schmälert natürlich nicht im mindesten Tu Youyous bemerkenswerte Entdeckung und ihre preisgekrönte Arbeit. Allerdings betonte auch der Sprecher des Nobelkomitees, dass sie und nicht die TCM den Nobelpreis gewonnen hat:

Die traditionelle Pflanzenheilkunde war vielmehr der Ausgangspunkt für Experimente, die zur Entdeckung eines definierten Wirkstoffes führten – der sich dann in „traditionell wissenschaftlichen“ klinischen Studien beweisen musste.“

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Der Science-Blog Respectful Insolence sieht in der Nobelpreisvergabe 2015 ein Triumph der modernen Pharmakognosie und der Medizinischen Chemie:

Ja, es mögen in den Tausenden Heilpflanzen, die von der Traditionellen Chinesischen Medizin verwendet werden, noch weitere pharmakologische Perlen wie Artemisinin verborgen sein. Aber diese können nur mit streng wissenschaftlichen Methoden entdeckt und validiert werden – so wie Tu es getan hat.

TCM-Gläubige übersehen gerne, dass die Nobelpreisträgerin an die 2000 Rezepturen altchinesischer Heilkräuter sichtete, von denen sie 640 testete und schließlich nur der Beifuß-Pflanze Qinghao eine Bedeutung zumaß. Mit der Erforschung und Extraktion eines wirksamen Bestandteils dieser TCM-Arzneipflanze hat sie eben gerade nicht den mystischen und pseudowissenschaftlichen Überbau der TCM bestätigt.

Wissenschaft funktioniert. Aberglaube nicht.“

Zum Weiterlesen:

  • A Nobel Price for TCM? edzardernst am 7. Oktober 2015
  • No, the Nobel Prize does not validate naturopathy or herbalism, Science-Based Medicine am 8. Oktober 2015
  • The 2015 Nobel Prize in Physiology or Medicine for the discoverer of Artemisinin: A triumph of natural product pharmacology, not traditional Chinese medicine, Respectful Insolence am 7. Oktober 2015
  • Traditional Chinese Medicine (TCM) Didn’t Win a Nobel Prize, Scientific Medicine Did, CSI am 19. Oktober 2015
  • Nobelpreis für Traditionelle Chinesische Medizin? GeoGraffitico am 5. Oktober 2015
  • Tradition, Tradition … heute: Traditionelle Chinesische Medizin, Psiram am 11. November 2014
  • Mythen der Traditionellen Chinesischen Medizin, GWUP-Blog am 20. Juni 2012
  • Video vom Debunking Slam: „Schwanger werden mit Fledermauskot?“ GWUP-Blog am 1. Mai 2015
  • Vortragsvideo: Traditionelle Chinesische Medizin, GWUP-Blog am 1. März 2014
  • Chinesen glauben, Stoßzähne fallen wie Milchzähne aus, Süddeutsche am 2. März 2012
  • Kate Moss, geile Ziege, GWUP-Blog am 5. Dezember 2010
  • Traditional Chinese Medicine: Views East and West, Skeptical Inquirer Volume 36.2, March/April 2012

2 Kommentare

  1. Auch in China wurde das Thema diskutiert, mit sehr gemischten Sichtweisen. Ich empfehle diesen Artikel in der NY Times:

    http://www.nytimes.com/2015/10/11/world/asia/nobel-renews-debate-on-chinese-medicine.html

  2. Ist doch eigentlich gut, das zeigt das mit Wissenschaft Nicht-Wissenschaft entzaubert werden kann und dabei auch was gewonnen werden kann.

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    Das alles schmälert natürlich nicht im mindesten Tu Youyous bemerkenswerte Entdeckung und ihre preisgekrönte Arbeit.
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    Das finde ich sehr lobenswert, Sie mag zwar Anhängerin von einer Alternativmedizin sein hat aber wissenschaftlich scheinbar eine sehr gute Arbeit geleistet.

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