Kritik an der Achtsamkeitsbewegung (mindfulness) ist nicht neu.
Recht häufig zitiert wird etwa diese Studie (2018) des Mannheimer Sozialpsychologen Jochen E. Gebauer:
Mind-Body Practices and the Self: Yoga and Meditation Do Not Quiet the Ego but Instead Boost Self-Enhancement
Laut spektrum.de beobachtete die Forschergruppe bei Yoga-Übenden „einen höheren Grad an Selbst-Zentralität und Selbstaufwertung“:
Die Vorteile spiritueller Praktiken könnten also tatsächlich auf Ego-Boosting zurückgehen – nicht auf eine Mäßigung des Egos.
„Spiritueller Narzissmus“ nennt sich das dann – in einer Zeit, in der eher Gemeinsinn gefragt wäre, wie Jan Skudlarek in seinem neuen Buch darlegt.
Allerdings relativierte Gebauer gegenüber der Süddeutschen Zeitung (2023) diese Lesart ein wenig:
„Diese Studie wurde oft falsch verstanden und Yoga, Achtsamkeit und dergleichen zur Last gelegt. Dabei sind die Ergebnisse eigentlich gar nicht so spektakulär.“
Sie würden nur bestätigen, was schon vielfach beobachtet wurde: Dass Praktizierende von Meditation und Yoga ein größeres Selbstwertgefühl haben. Dasselbe trifft auch auf praktizierende Christ:innen zu. Und sei laut Gebauer gar nicht unbedingt negativ zu bewerten, sondern im Bezug auf psychische Gesundheit eher ein Vorteil von Spiritualität.
Was aber anscheinend viele provoziert, ist der Widerspruch zwischen den theoretischen Ursprüngen dieser Praktiken – wie etwa dem buddhistisch geprägten Ansatz, das Ego zum Schweigen zu bringen und die eigenen Wünsche weniger wichtig zu nehmen – und der wahrgenommenen Selbstdarstellung der Praktizierenden.
Barry Kaufman, ein US-amerikanischer Psychologe, spricht sogar von einem „Ich-bin-erleuchtet-und-du-nicht“-Syndrom.
In einer Titelgeschichte trägt der neue Spiegel (40/2023) „die Risiken und Nebenwirkungen von Meditation und Yoga“ zusammen.
Als da wären:
- Bei Menschen mit psychischen Krankheiten könnten die Methoden das Leiden gar verschlimmern.
Allein in den USA sind inzwischen Hunderte Fälle dokumentiert, bei denen Menschen sogenannte Achtsamkeitscamps, die eigentlich Ruhe und Einkehr versprechen, mit Wahnvorstellungen, schizophrenen Schüben und Panikattacken verlassen haben. Verantwortungsvolle Achtsamkeitstrainer wissen das – und raten Menschen mit Angststörungen oder Traumaerfahrungen von Meditation ohne therapeutische Begleitung ab […]
Gemeinsam mit Kollegen hat die Psychologin Willoughby Britton über die vergangenen zehn Jahre für eine Studie 60 Symptome zusammengetragen, die nach Meditationen auftreten können. Darunter sind Schlaflosigkeit, Panikattacken und Halluzinationen.
- Der Lärm der Welt könne durch Meditation so nachhaltig verstummen, dass das eigene Ego komplett in den Mittelpunkt rückt.
Die Welt im derzeitigen Zustand kann zwar einerseits gelassenere Menschen durchaus gebrauchen, andererseits ist es wegen der vielen Krisen auch nötig, dass die Menschen nicht nur auf sich selbst achten, sondern auch auf die anderen um sich herum.
- Richtig angewandt könnten Yoga und Meditation Stress und Angst messbar reduzieren.
Unklar ist allerdings, ob sie dabei wirksamer sind als häufige Waldspaziergänge oder andere Formen von körperlicher Betätigung: Regelmäßige Bewegung kann ebenso wie Yoga Stress abbauen und der Entstehung zahlreicher Krankheiten vorbeugen.
- Gesicherte Aussagen über die heilsame Wirkung von Achtsamkeit ließen sich trotz vieler Untersuchungen kaum treffen.
Die meisten Studien basieren auf reiner Korrelation – wenn Menschen beispielsweise in einem Fragebogen angeben, wie achtsam sie sind und wie zufrieden sie sich fühlen, bleibt offen, ob die innere Einkehr tatsächlich die Ursache ist.
- Forscher wie der Soziologe Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena erwarten vom Achtsamkeitshype auch Folgen für die Gesellschaft.
„Problematisch wird Achtsamkeit dort, wo der Fehler ausschließlich im Geist des Individuums gesucht wird, dort, wo sie das Falsche und Problematische sozialer Verhältnisse einfach in ein subjektives Problem übersetzt“, schreibt er in der Zeitschrift Psychologie heute […]
Aus ähnlichen Gründen mahnt der US-amerikanische Bildungsexperte Alfie Kohn zur Vorsicht beim Einsatz von Achtsamkeitsübungen an Schulen: Die Methode könnte bei Schülerinnen und Schülern den Eindruck erwecken, sie müssten Leistungsdruck und Ungerechtigkeit hinnehmen: Schließlich könnten sie die Misere ja bei der nächsten Einheit Achtsamkeit wegatmen.
- Problematisch seien die Methoden auch, wenn kranke Menschen vor lauter Enthusiasmus notwendige Therapien oder Medikamente weglassen würden.
„Meditation kann nicht alles heilen“, mahnt Ulrich Ott, Psychologe an der Gießener Justus-Liebig-Universität.
Demgegenüber stünden indes auch Vorteile, wie etwa positive Hirnveränderungen oder stressreduzierende und emotionsregulierende Effekte.
Von unserer Seite sei noch erwähnt, dass auch der Verschwörungsideologe Daniele Ganser auf der Achtsamkeitswelle reitet und sogar „Achtsamkeitsworkshops“ anbietet.
Und dass es von Natalie Grams einen Spektrum-Beitrag zum Thema „rationale Spiritualität“ gibt.
Zum Weiterlesen:
- Achtsamkeitstrend: Die Risiken und Nebenwirkungen von Meditation und Yoga, spiegel.de am 29. September 2023
- Der Spiegel über Achtsamkeitstrainings, GWUP-News am 30. September 2023
- Spiritualität auf Abwegen, spektrum am 17. Dezember 2021
- Esoterik: Tun wir ihr Unrecht? Süddeutsche am 10. Februar 2023
- Kritik an der Achtsamkeitsbewegung: Von innen ruhig, nach außen kampfbereit, Deutschlandfunk am 20. Dezember 2016
- Der Hype um die Achtsamkeit, spektrum am 11. September 2018
- Die gefährlichen Folgen der Achtsamkeitslehre, tagesspiegel am 19. August 2019
- Achtsamkeitstrainings kein Allheilmittel, GWUP-News am 23. August 2019
- Wie berechtigt die Kritik an Achtsamkeit ist, Deutschlandfunk am 27. April 2023
- Grams‘ Sprechstunde: Wie meditiert man ohne Esoterik? detektor.fm am 1. April 2022
- Gesundheit, Spiritualität, keine Esoterik, spektrum am 23. Februar 2021
- Wie Yoga das Gehirn verändert, spektrum am 4. Januar 2021
- Wie Achtsamkeit gesund erhält, spektrum am 3. Oktober 2017
- Häufig negative Erfahrungen beim Meditieren, spektrum am 14. Mai 2019
- Esoterik bei Daniele Ganser, psiram am 28. Januar 2020
- Jan Skudlarek: Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht. Klett-Cotta 2023, 240 Seiten, 22 €
1. Oktober 2023 um 03:04
Gruselig finde ich das allgegenwärtige Yogaangebot, welches Kindern gilt. Es gibt Schulen, an denen Yoga verpflichtend unterrichtet wird. Auch finde ich es entsetzlich künstlich, wenn Kinder im Kreis dazu angehalten werden, über ihre Gefühle zu reden. Oder gar ein „Gefühlebarometer“ einzustellen.
In meinem Beruf wurde mir oft auch „Entspannung“ verordnet. Zu Beginn der Teamsitzungen und auf Fortbildungen fanden alle möglichen esoterischen Auswüchse statt. (Ich bin dann in Gedanken nicht am Strand, sondern bei meiner Einkaufsliste gewesen).
2. Oktober 2023 um 06:34
Spannend für mich, als Befürworter von Achtsamkeitsübungen und MBSR.
MBCT und MBSR haben zwar den Ruf evidenzbasiert zu sein, wobei die Kritik wohl zutreffend ist, dass viele Ergebnisse durch Fragebögen und Selbsteinschätzung zustande kommen. Mir ist jedoch nicht ganz klar, wie sich diese Untersuchungen zur Evaluierung von Therapien unterscheiden.
(https://psycnet.apa.org/record/2023-80918-001)
Was mir auffällt ist, dass viele unterschiedliche Praktiken unter dem Begriff „Meditation“ zusammengefasst werden. Yoga wird anders funktionieren als zum Beispiel Zen.
Vor der Teilnahme an MBSR Kursen und Retreats musste ich immer unterschreiben keine psychischen Probleme zu haben. Diese schienen also zur verantwortungsvollen Seite zu gehören.
Bei buddhistischen Retreats (Diamantwegbuddhismus) gab es so eine Prüfung nicht.
Viele Erwähnungen, wie die des spirituellen Narzissmus, decken sich mit meinen persönlichen Erfahrungen. Nichtsdestotrotz finde ich es notwendig zwischen den verschiedenen Praktiken/Methoden mehr zu differenzieren.
Solche Aussagen wie „Das Ego ausschalten“ sind Käse und würde ich eher einer Life-Coaching-Bubble zuordnen.
30. Oktober 2023 um 11:59
Hallo gwup-Gemeinde,
ich lese hier schon länger sporadisch mit und möcht mich heute auch mal äußern, da ich mit diesem Thema immer mal wieder zu tun habe/bekomme. Eher indirekt allerdings.
Hm. Auf den ersten Überblicksversuch sieht die Kritik an dem Achtsamkeitsbewegung für mich nach üblicher linker Kapitalismuskritik aus.
Achtsamkeitsbestreben darf gefälligst nur eingebettet in einen ethischen Kontext praktiziert werden.
Mal an einem konkreten Radikalbeispiel:
Der Personaler hatte zuvor Skrupel und Schwierigkeiten, Menschen auf die Straße zu setzen. Seitdem er Achtsamkeit praktizieren, fällt es ihm viel leichter.
Ist ja in der Medizin eher kein Ansatz.
Da fordert der Therapeut oder die Therapeutin gerne mal zu mehr Mut zu gesundem Egoismus auf :/
Na gut, ob das beim Manager auch so läuft, weiß ich nicht.