gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Wozu Pseudowissenschaften gut sind – gerade im Jahr 2022

| 3 Kommentare

Im aktuellen bild der wissenschaft (2/2022) erklärt die Physikerin Sabine Hossenfelder, wozu Pseudowissenschaften gut sind:

Während der Pandemie haben wir zum Beispiel gesehen, wie Pseudowissenschaft Wissenschaftler dazu anhält, ihre Kommunikation zu verbessern. Und ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass die Bekämpfung der Pseudowissenschaft wiederholt zur Verbesserung wissenschaftlicher Methoden beigetragen hat.

Als Beispiele führt Hossenfelder an:

  • die ersten Einzelblindstudien, mit denen Wissenschaftler um das Jahr 1780 die Behauptungen („Mesmerismus“) des Arztes Franz Anton Mesmer prüften.

Dazu hatten wir vor vier Jahren auf den Podcast Evidenz-Geschichten („Verblindung“) hingewiesen.

This was the first scientific use of statistical interference for studying telepathy in the general population,

heißt es auch in dem Buch „Debating Psychic Experience“.

Die theoretische Physikerin ist der Überzeugung, dass auch die Idee von einem „Multiversum“ bald als Pseudowissenschaft klassifiziert werde:

Aber die Pseudowissenschaft selbst werden wir wohl nie loswerden, denn sie gehört zur Wissenschaft wie Schatten zum Licht.

Ganz ähnlich äußerte sich schon vor fast 30 Jahren der Physiker und Philosoph Prof. Gerhard Vollmer (Mitglied im GWUP-Wissenschaftsrat).

Im Skeptiker 4/1994 schrieb er, dass es sich durchaus lohne, sich mit Pseudowissenschaften zu befassen:

Wissenschaftler lernen zu sagen, worauf sie ihre Aussagen stützen; für die Wissenschaftstheorie sind Pseudowissenschaften Prüfsteine für das entwickelte kritische Instrumentarium.

Zugleich betonte Vollmer in seinem Aufsatz die lebenspraktischen Aspekte der kritischen Beschäftigung mit Pseudowissenschaft, Esoterik, Verschwörungsmythen etc.:

Man kann das Thema Pseudowissenschaften unter rein wissenschaftstheoretischen Aspekten interessant finden. Aber dann bräuchte es andere überhaupt nicht zu interessieren.

Ein ganz anderer Aspekt ist das Problem der Verantwortung. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wem unsere Mitmenschen – Kinder, Verwandte, Freunde, Landsleute, Mitbürger – ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Lebensglück, ihre Zeit, ihr Geld anvertrauen.

Und wenn sie die Wahl haben zwischen einem rationalen und einem irrationalen Unternehmen, dann raten wir zur Rationalität.

Das scheint 2022 sogar wichtiger denn je.

Zum Weiterlesen:

  • Ein Hurra auf die Pseudowissenschaft, BdW 2/2022
  • Erster Homöopathie-Blindtest bei youtube, GWUP-Blog am 21. März 2011
  • Hahnemann: Scharlatan in der höheren Potenz, GWUP-Blog am 15. Juli 2010
  • Homöopedia: Nürnberger Kochsalzversuch
  • Video: „How to tell science from pseudoscience“ mit Sabine Hossenfelder, GWUP-Blog am 22. Juni 2020
  • Skeptiker-Interview mit Sabine Hossenfelder: Freie Energie? Alles ist relativ? Fragen Sie erst mal einen Physiker, GWUP-Blog am 17. September 2016
  • Podcast „Evidenzgeschichte(n)“: Verblindung leicht erklärt am Beispiel des Mesmerismus, GWUP-Blog am 3. Juni 2017
  • GWUP-Thema: Parawissenschaft – Pseudowissenschaft
  • GWUP-Thema: Wie sollten wir mit Parawissenschaften umgehen?
  • Wozu Pseudowissenschaften gut sind, Skeptiker 4/1994

3 Kommentare

  1. „Pseudowissenschaft“ (wofür es keine gültige Definition gibt und übrigens infolgedessen auch keinen Wikipedia-Artikel) wird erst durch den wissenschaftlichen Falsifikationsprozess plus einiger anderer Faktoren wie Denialismus zur Pseudowissenschaft. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler stellt sich hin und bezeichnet eine These begründungslos und ohne zumindest grundlegende Prüfung der Prämissen als „Pseudowissenschaft“. Hier wird also eine philosophische Spielerei mit dem Henne-und-Ei-Problem veranstaltet.

    Man kann doch nicht ernsthaft Postulieren, der wissenschaftliche Erkenntnisprozess „benötige“ Pseudowissenschaft. Schon deshalb nicht, weil Wissenschaft immer an der Grenze zum Nichtwissen operiert und sich der eigenen Fallstricke bewusst genug ist. Widerlegung von als pseudowissenschaftlich erkannten Hypothesen (oder Behauptungen) ist mehr wissenschaftliche Psychohygiene als wissenschaftliche Motivation.

    Merkwürdig, dass ganz ähnliche Thesen in dem Buch „Wir lieben Wissenschaft“ von Lee McIntyre enthalten sind, das Martin Mahner im „Skeptiker“ 1/2022 hervorragend rezensiert.

  2. @Udo Endruscheit:

    Man kann doch nicht ernsthaft Postulieren, der wissenschaftliche Erkenntnisprozess „benötige“ Pseudowissenschaft.

    Das wird m.E. auch nicht postuliert. Von „benötigen“ lese ich da nichts, nur von „wozu sie – möglicherweise – gut sind“.

    In den Beispielen von Sabine Hossenfelder geht es aus meiner Sicht darum, dass man, um außergewöhnliche Behauptungen zu testen, das wissenschaftliche Instrumentarium um geeignete Methoden erweitern musste.

    Das wäre vermutlich ohnehin irgendwann geschehen, aber z.B. der Nürnberger Kochsalzversuch in Sachen Homöopathie gilt nun einmal als „erster Doppelblindversuch der Medizingeschichte“.

    Warum sollte man das in Abrede stellen?

    (wofür es keine gültige Definition gibt und übrigens infolgedessen auch keinen Wikipedia-Artikel)

    https://de.wikipedia.org/wiki/Pseudowissenschaft

  3. @Bernd Harder

    Sorry, es hätte in Bezug auf die Wikipedia „Pseudomedizin“ statt „Pseudowissenschaft“ heißen sollen.

    Dazu ist es bisher nicht gelungen, einen eigenen Artikel zu etablieren – ok, die Abgrenzungskriterien sind Wikipedia nicht konkret genug. Deshalb dümpelt der Begriff nur im Artikel über „Alternativmedizin“ herum (der sich weitgehend in definitorischen Betrachtungen erschöpft) und findet zaghafte Erwähnung im Artikel über das Arzneimittelrecht.

    Aber vielleicht es es von der Wikipedia wirklich zu viel verlangt, solche „Grauzonen“ als eigenen Topic zu akzeptieren.

    Den letzten beiden Absätzen stimme ich gern zu, bin aber nach wie vor skeptisch, was Pseudowissenschaft als Antrieb für wissenschaftliche Horizonterweiterung angeht. Der Gedanke mag legitim sein aber wie gesagt: ein Henne-und-Ei-Problem.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.