In seinem neuesten Blogbeitrag vom 17.01. beschäftigt sich Udo Endruscheit (Science and sense) mit einem wissenschaftstheoretischen Thema: dem Zusammenhang zwischen den Natur– und den Geisteswissenschaften.
Beide ‚Seiten‘ brauchen sich durchaus gegenseitig. Die Naturwissenschaften haben „unbestreitbare Erfolge“ erzielt, aber es ist aufgrund der „Überbewertung der Empirie“ – so Udos Einschätzung – „auch eine Art methodologische[r] Tunnelblick“ entstanden.
Hierbei können die Geisteswissenschaften helfen, indem sie Grundsätzliches reflektieren:
Was macht eine Hypothese plausibel? Was macht sie in hohem Maße unplausibel? Welche ontologischen Annahmen sollten vorab geklärt werden?
Es führt kein Weg an der Interdisziplinarität vorbei:
Beide Disziplinen müssen erkennen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Die Naturwissenschaften brauchen die geisteswissenschaftliche Reflexion, um die Plausibilität und Relevanz ihrer Hypothesen zu prüfen. Die Geisteswissenschaften wiederum können von der Strenge und empirischen Validierung der Naturwissenschaften lernen.
Wie dieses grundsätzliche Thema mit der Replikationskrise, dem Publikationsbias und dem ontologischen Naturalismus zusammenhängt und wie es sich an konkreten Beispielen (Stichwort: Homöopathieforschung, Psi-Experimente) abzeichnet, zeigt sich in Udos lesenswertem Blogartikel.
Zum Thema:
- Artikel: Evidenzbasierte Medizin und Homöopathie (I) – Die „reine Empirie“, Science and sense vom 15.06.2021
- Artikel: Erkenntnis in der Medizin: Pragmatismus, Pluralismus und Sackgassen, Science and sense vom 07.02.2024
- Video: Veganismus? eine kritische Einführung (Tierethik – Tierrechte), Tierethik und Veganismus vom 24.05.2023
Dieses Video behandelt in dem Ausschnitt von 35:54 – 42:37 min. (Timestamp hinterlegt) ein ähnliches Thema. Hier gibt es weiterführende Gedanken zum Verhältnis zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie bzw. Ethik: Woher kommt das Wozu naturwissenschaftlicher Forschung? Woher kommt die Begründung für die Methodik? Wie unterscheiden sich deskriptive und normative Sätze? etc.
Hinweis:
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25. Januar 2025 um 11:56
Da werden sich Theologen, Esoteriker und andere Geisteswissenschaftler aber freuen, wenn sie einen Beitrag zur Reflexion der Naturwissenschaften leisten können. Das haben jene schon immer unbegründet für ihre eigentliche Aufgabe gehalten. Den Naturwissenschaften zeigen, worin ihre Grenzen von Weltverständnis bestehen. Selbstverständlich begründen die Naturwissenschaften nicht ihre eigenen metaphysischen und methodologischen Grundlagen, es sei denn, sie zeigten sich in der Praxis. Dies würde allerdings einen praktischen Zirkelschluss und in der Argumentation einen logischen bedeuten. Poppers Logik der Forschung liefert zwar einen Beitrag zur Reflexion, sie kommt aber in der Forschungspraxis nicht zum Einsatz, sonst gäbe es kein Good-enough-Prinzip und kein p-fishing.
25. Januar 2025 um 21:19
Diesen Satz halte ich für sinnleer: »Dass wissenschaftliche Methodik auch dann angewandt werden darf, wenn die Hypothese nicht in das etablierte naturwissenschaftliche Weltbild passt.«
Das naturwissenschaftliche Weltbild baut auf Ideen, die an der Erfahrung scheitern können. Diese Charakterisierung ist den Philosophen zu einfach: Sie machen eine Ontologie daraus. Inhaltsreicher wird die Beschreibung dadurch nicht. Ich kann mit der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft gut leben. Die erstere beschäftigt sich mit orts- und zeitunabhängigen Beobachtungen, also solchen, die »theoretisierbar« sind. Die andere beschäftigt sich mit Beobachtungen, für die das eben nicht gilt, beispielsweise mit gesellschaftlichen Phänomenen.
27. Januar 2025 um 00:20
Als schlichtes Gemüt möchte ich zum Thema Homöopathie (das Endruscheit anspricht) anmerken, daß hier das Problem eher darin zu bestehen scheint, daß trotz dem postulierten Wirkprinzip widersprechender naturwissenschaftlicher Grundsätze fleißig weitergeforscht wird. Mithin benötigt man für dieses Thema nicht zwangsläufig eine Besinnung auf die Geisteswissenschaft, sondern eine Anpassung der Prinzipien von EbM und den Mut, sich an sein naturwissenschaftliches Schulwissen zu erinnern.
Umgekehrt gebe ich allerdings gerne zu, daß ich gerade in den Sozialwissenschaften ein wenig mehr empirische Forschung sehr erfreulich fände.
27. Januar 2025 um 14:41
@Carsten Ramsel:
Der Kommentar spricht spannende Punkte an, worüber ich mich freue, auch wenn ich glaube, dass meine Argumentation an manchen Stellen missverstanden wurde.
Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich Geisteswissenschaften weder auf Theologie oder Esoterik reduziert noch sie überhaupt in die Geisteswissenschaften inkludiert habe. (Hier käme eher die Demarkationsproblematik als Werkzeug in Betracht). Vielmehr ging es mir darum, die Geisteswissenschaften als Disziplinen zu würdigen, die Reflexion, Interpretation und theoretische Klärung leisten – und damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Wissenschaft insgesamt. Philosophie, Geschichtswissenschaft oder Ethik sind keine Fremdkörper in der wissenschaftlichen Landschaft, sondern oft die Grundlage für unser methodologisches und epistemologisches Selbstverständnis.
Dass Naturwissenschaften ihre metaphysischen und methodischen Grundlagen „praktisch“ beweisen, stimmt insofern, als sie oft empirische Erfolge vorweisen können. Aber diese Grundlagen – wie Kausalität, Zeit oder Induktion – sind nicht von der Praxis alleine ableitbar. Es braucht Reflexion, um ihre Reichweite und ihre Grenzen zu verstehen. Genau hier sehe ich den gemeinsamen Nenner: Die Naturwissenschaften liefern Erkenntnisse über die Welt, die Geisteswissenschaften reflektieren darüber, wie und warum wir zu diesen Erkenntnissen gelangen.
Der Hinweis auf das Good-enough-Prinzip oder p-fishing ist treffend, unterstreicht aber doch genau den Punkt, den ich machen wollte: Wissenschaft – auch die Naturwissenschaft – hat blinde Flecken und ist anfällig für systematische Fehler. Diese zu erkennen und zu bearbeiten, erfordert Reflexion. Nicht als Ersatz für empirische Forschung, sondern als deren Ergänzung. Dazu habe ich ja sogar Beispiele gegeben.
Mein Ziel war es gerade nicht, eine Hierarchie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu etablieren, sondern eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen – mit dem Ziel, die Suche nach Wahrheit in ihrer Komplexität gerechter zu werden. Der Beitrag mag in seiner Kürze unvollkommen sein, aber gerade für uns Skeptiker scheint mir wichtig, dass wir uns – gern kontrovers, eben im Sinne einer „Wahrheitssuche“ – auch mit solchen „übergeordneten“ Themen zu befassen und damit Selbstvergewisserung zu betreiben.
27. Januar 2025 um 14:54
@Timm Grams:
Vielen Dank auch für diesen Kommentar. Wenngleich ich auch die einleitende Kritik in Bezug auf den als „sinnleer“ bezeichneten Satz nicht teile.
Dieser Satz bezieht sich auf den schwachen Ontologischen Naturalismus (gibt seine Definition) – eine etablierte wissenschaftsphilosophische Position, die sicherstellt, dass wissenschaftliche Methodik universell anwendbar bleibt, unabhängig davon, ob eine Hypothese dem aktuell dominierenden naturwissenschaftlichen Weltbild entspricht oder nicht. Damit wird die Möglichkeit betont, Grenzen zu hinterfragen und neue Erkenntnisräume zu erschließen, ohne das Fundament der Wissenschaft zu untergraben. Sinnleer ist dieser Satz also keineswegs, sondern grundlegend für den wissenschaftlichen Fortschritt.
Ihre Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften entlang der Dimension „theoretisierbar vs. nicht theoretisierbar“ ist interessant, jedoch zu schematisch. Gesellschaftliche Phänomene sind keineswegs per se nicht theoretisierbar. Soziologie, Geschichtswissenschaft oder Psychologie arbeiten mit theoretischen Modellen, die empirisch überprüfbar sind, auch wenn ihre Phänomene oft stärker kontextabhängig sind als die der Physik oder Chemie. Diese Kontextabhängigkeit macht sie nicht weniger wissenschaftlich.
Dass Philosophen Ontologie betreiben (oder gar „machen“, ist ein Missverständnis. Ontologie ist keine abstrakte Überfrachtung (siehe Link am Schluss), sondern eine Notwendigkeit, um wissenschaftliche Begriffe wie „Kausalität“, „Zeit“ oder „Materie“ überhaupt sinnvoll zu verwenden. Sie ist ein Werkzeug, das uns hilft, die Grundlagen von Wissenschaft methodisch zu reflektieren und zu schärfen – eine Aufgabe, die keineswegs inhaltslos ist, sondern oft die Basis für wissenschaftlichen Fortschritt bildet.
Mein Ziel war es, eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schlagen, um ihre jeweiligen Perspektiven als komplementär zu begreifen, nicht als unüberwindbar getrennt. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass keine Disziplin für sich allein die Welt in ihrer Komplexität vollständig erfassen kann?
Mehr zur Ontologie in diesem Artikel von Martin Neukamm, erschienen in „Aufklärung und Kritik“, hier nachveröffentlicht von der GWUP- Regionalgruppe Mittelfranken.
https://www.gwup.org/images/regionalgruppen/Mittelfranken/Vortraege/Neukamm_Nullhypothese.pdf
28. Januar 2025 um 22:16
@ Udo Endruscheit
Unter Theorie verstehe ich ein empirisch-wissenschaftliches Aussagesystem, an das die zentrale Forderung gestellt ist, dass es an der Erfahrung scheitern können muss (KR Popper LdF, I. Kapitel).
In diesem eingeschränkten Sinne verstehe ich das Wort „theoretisierbar“. Diese Begriffsbestimmung gibt einen Sinn, wenn es um Gesetzmäßigkeiten geht, die sich immer und überall beobachten lassen. Martin Mahner geht noch einen Schritt weiter und postuliert eine beobachterunabhängige Realität. So weit folge ich ihm nicht.
Bei dieser engen Begriffsbestimmung sind beispielsweise die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften nicht theoretisierbar. Die Wissenschaftlichkeit kann man ihnen nicht absprechen. Dazu gab es auch eine interessante Auseinandersetzung zwischen Bunge und Berger (skeptiker 2/2009, S. 68-80). Auf diesen Gebieten findet man die wissenschaftliche Arbeitsweise und auch mathematische und statistische Modelle, die in einem bestimmten Kontext funktionieren. Ich denke da vor allem an die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“.
Darauf können wir uns sicherlich verständigen.
Dass Ontologie eine Notwendigkeit sei, »um wissenschaftliche Begriffe wie „Kausalität“, „Zeit“ oder „Materie“ überhaupt sinnvoll zu verwenden«, findet meine Zustimmung nicht. Aber dies wurde unter der Überschrift »Das fünfte Welträtsel: Bewusstsein« in meinem Hoppla!-Blog als auch im Blog Menschenbilder von Stephan Schleim im doppelten Sinne erschöpfend behandelt. Da weiterzumachen, bedeutet nur, eine weitere Schleife zu durchlaufen.
»Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass keine Disziplin für sich allein die Welt in ihrer Komplexität vollständig erfassen kann?« Ich denke: Ja, darauf können wir uns einigen.