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Soll man den Begriff „Schulmedizin“ meiden?

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Interessante Gegenposition:

In der Süddeutsche Zeitung fragt sich der Historiker Niccolo Schmitter, ob man den Begriff „Schulmedizin“ tatsächlich meiden solle:

Der Begriff der „Schulmedizin“ ist heute weitgehend etabliert. Umgangssprachlich definiert er eine Medizin, die an Universitäten nach naturwissenschaftlichen Grundsätzen gelehrt und entwickelt wird und Evidenz braucht, um praktiziert zu werden.

Natürlich weiß Schmitter, dass dieser Begriff „seit seiner Entstehung stets genutzt worden [ist], um sich von wissenschaftlichen Methoden abzugrenzen“. Seine Begriffsgeschichte und Verwendung könne man daher durchaus als problematisch ansehen.

Allerdings hat auch der Marburger Pharmaziehistoriker Axel Helmstädter „wenig Bedenken, den Begriff zu verwenden“. Einen nationalsozialistischen Kampfausdruck sehe er darin nicht.

Ähnlich sieht es der Medizinhistoriker Ralf Forsbach, für den der Begriff „nicht genuin antisemitisch oder nationalsozialistisch geprägt“ ist:

Schulmediziner sollen sich selbstbewusst als solche bezeichnen dürfen […] Worte sollten nicht gebannt werden, weil sie falsch und irrational gebraucht werden.

Davor beschreibt Schmitter in dem SZ-Artikel, wie der homöopathische Arzt Franz Fischer Mitte der 1870er-Jahre das Wort „Schulmedizin“ erstmals verwendete und dieses von dem Autor H. Milbrot popularisiert wurde, nachdem sich „naturwissenschaftliche Medizin“, „Staatsmedizin“ oder die von Hahnemann geprägte „Allopathie“ als ungeeignet erwiesen hatten, um die revolutionäre Entwicklung der Medizin in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu bekämpfen.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten sah sich die an naturwissenschaftlichen Methoden orientierte „Schulmedizin“ von Seiten des Staates Angriffen ausgesetzt und wurde bisweilen als „verjudet“ oder „jüdisch-marxistisch“ bezeichnet. Mit unterschiedlichen Vorstellungen von Medizin habe das allerdings nicht zu tun gehabt, erklärt Ralf Forsbach in dem Beitrag:

Das Kalkül der Nationalsozialisten bestand vielmehr darin, Juden aus den medizinischen Berufen hinauszudrängen.

Schlimm genug – und damit ist der Begriff „Schulmedizin“ antisemitisch konnotiert (Wikipedia) beziehungsweise historisch schwer belastet (Krautreporter). Forsbach argumentiert, wer dieses Wort in denunziatorischer Absicht verwende, der schmähe nur einen gut handelnden Menschen – und diskreditiert sich damit selbst.

Es stimmt natürlich, dass sich schon „in den Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts beobachten [ließ], wie die Schulmedizin allmählich auch als weitgehend wertneutraler Begriff vonseiten Milbrots verhassten Widersachern als Selbstbezeichnung verwendet wurde“.

Richting ist aber auch, dass sich der Begriff „Schulmedizin“ an das Wort „Schulweisheit“ anlehnt und damit andeuten soll, „dass es sich dabei um eine verstaubte und überholte Lehre handele. Dagegen soll der Begriff Alternativmedizin Assoziationen mit einer frischen, unkonventionellen Schule erzeugen“ (MedWatch).

Insofern dürfte einer Rehabilitierung des Ausdrucks „Schulmedizin“ mehr als nur ein Grund entgegenstehen. Oder?

Zum Weiterlesen:

  • Wie die „Schulmedizin“ zum Kampfbegriff wurde, Süddeutsche am 2. April 2023
  • Wie viel Nazi-Ideologie steckt im Begriff „Schulmedizin“? derStandard am 14. November 2019
  • „Schulmedizin“: Es gibt keine Schulen in der Medizin, medwatch am 27. Januar 2022
  • Nieder mit der „Schulmedizin“, krautreporter am 17. Juli 2020

12 Kommentare

  1. Ich habe mich seit Beginn meiner Berufstätigkeit immer als „Schulmediziner“ betrachtet und fand diesen Begriff nie diskriminierend – im Gegenteil.

    Als Anhänger einer wissenschaftlich begründeten, lehr- und somit auch „schulfähigen“ Medizin bezeichnet zu werden, ist doch ehrenhaft.

    Alternativmedizin kann man nicht lehren, da es keine allgemein anerkannten Standards und Erkenntnisse gibt; jeder kann behaupten, was er will.

    Sprache ist ein lebendiges Wesen, und sinnvolle oder nützliche Begriffe sollten nicht grundsätzlich aus dem Sprachschatz verbannt werden, nur weil sie irgendwann in der Geschichte missbräuchlich verwendet worden sind.

  2. „Ich finde Schulmediziner prima. Ich finde es schön, wenn mein Arzt eine Schule besucht hat.“

    https://www.amazon.de/Wers-glaubt-wird-selig-Dieter/dp/349962284X

  3. Eine „alternative“ Medizin gibt es doch nur, weil immer jemand Gründe hatte, die Medizin zu diffamieren, z.B. als Schulmedizin. Idealerweise gäbe es beide Begriffe nicht – wie in der Physik, der Chemie usw. und vor allem im Ingenieurwesen, zu denen es zum Glück keine „Alternativen“ gibt.

    Aber nun sind wir halt da, wo wir sind.

    Ich persönlich finde, Mediziner sollten sich zur Abgrenzung von den Schwurblern selbstbewusst und stolz selbst „Schulmediziner“ nennen und damit allmählich eine positive Konnotation herbeiführen. Allerdings müssten die das selbst tun, das ist wohl nicht von außerhalb des Berufsstandes herbeizuführen.

    Historische Beispiele für gedrehte Begriffe sind etwa „schwul“ oder „Hure“, die von Beleidigungen zu Selbstbezeichnungen mutiert sind, weitestgehend.

    Ein aktuelles Negativbeispiel ist natürlich der „Querdenker“.

  4. @Martina:

    Klar, der Begriff „Schulmedizin“ kann im besten Sinne als „wird an Hochschulen gelehrt“ verstanden werden.

    https://www.luebbe.de/quadriga/buecher/gesellschaft/gefaehrlicher-glaube/id_8748542

  5. Nun, wenn man Tag für Tag mit Pseudomedizinern zu tun hat, dann erlebt man auch Tag für Tag, dass „Schulmedizin“ nach wie vor als gezielt diskriminierende und abwertende Bezeichnung verwendet wird. Insofern sind Versuche, die Causa zu beschönigen, nur im Sinne der Pseudomediziner.

    Allein dass es die Diskussion über die Verwendung des Begriffs gibt, zeigt doch schon die Ambivalenz in ihm, die man mit dem „Übergang in den allgemeinen Sprachgebrauch“ auch nicht wegreden kann.

    Die Apologeten des Schulmedizin-Begriffs würden sich vermutlich wundern, wie negativ der Begriff auch in der Allgemeinheit konnotiert ist – was Wunder, ist es doch nach wie vor DAS Abgrenzungskriterium zu „seelenloser Maschinenmedizin“ und „Chemiebomben von BigPharma“.

    Wenn wir beim Informationsnetzwerk Homöopathie stets sorglos den Begriff „Schulmedizin“ benutzen würden, wäre das Anlass zu großer Erheiterung bei der Gegenseite.

    Verstanden als „an Hochschulen gelehrt“ meint ja in den Augen (und Mündern) der Pseudomediziner gar keine positive Konnotierung. Darin liegt ja gerade die Abwertung; die heilige „Erfahrungsmedizin“ wird zum „Lehrstoff“ degradiert, an dogmatischen und unflexiblen „Hochschulen“.

    Man täusche sich nicht. Natürlich muss man keinen Kreuzzug gegen die Verwendung des Begriffs führen, aber man braucht andererseits auch keine ausdrücklichen Apologien, die ja letztlich auch nur zeigen, dass hier ein wunder Punkt liegt. Die Motivation zu den Verteidigungsbemühungen ist mir durchaus nicht klar.

    Mit der „Allopathie“ war es nicht anders, die internationale Medizingemeinde hat sich gegen diesen Begriff seit jeher gewehrt. Der US National Council of Health Fraud wies 2000 darauf hin, dass eine „mehrdeutige Benutzung des Begriffs ‚Allopathie‘ nur denen entgegenkommt, die das Bild der modernen Medizin verunklaren wollen, und dass deswegen der Begriff nicht mehr als Referenz, weder für die moderne Medizin noch für die sie praktizierenden Ärzte, verwendet werden sollte“.

    Mehr auch zur Historie der internationalen Ablehnung von „Allopathie“:

    https://quackwatch.org/ncahf/articles/a-b/allopathy/

    Dabei sehe ich Hahnemanns Allopathie als weit weniger abwertend in Bezug auf die heutige wissenschaftliche Medizin an als die „Schulmedizin“.

    Gäbe es den Begriff der „Schulmedizin“ im englischsprachigen Raum mit der Konnotation wie hierzulande, hatte der Council ihn sicher auch erwähnt. (Man sagt ja im Englischen „Orthodox Medicine“, was aber nicht annähernd die Bedeutung von „Schulmedizin“ hat.)

  6. statt über das Wort -Schulmedizin- (das überwiegend von der Schwurbelfraktion als Schimpfwort benutzt wird) zu sinnieren, was sowieso nichts nutzt.
    Wäre es wichtiger und nützlicher den Begriff -Alternativmedizin- und seine idiotische Bedeutung zu entlarven/entfernen.
    — Es gibt nur MEDIZIN eine Alternative dazu existiert nicht !
    –die Alternetive zur Medizin ist Schwurbel, Betrug an den daran Gläubigen.

  7. @diabetiker:

    Volle Zustimmung, das wäre ein weit bedeutungsvolleres Vorhaben, als den Begriff „Schulmedizin“ zu rechtfertigen (wozu mir die Motivlage, wie bereits erwähnt, völlig unklar ist).

    Dazu:

    https://netzwerk-homoeopathie.info/warum-nennen-wir-die-homoeopathie-pseudo-und-nicht-laenger-alternativmedizin/

    https://scienceandsenseblog.wordpress.com/2018/11/09/gibt-es-mehrere-medizinen-alternativ-komplementar-integrativ/

  8. Ich finde es schade, dass das Wort „Schulmedizin“ negativ behaftet ist. Und das in gleich mehrfacher Hinsicht.

    Viele esoterisch angehauchte Menschen sind der Ansicht, man solle der „alternativen Medizin“ eine „Chance geben“ bevor man sich schulmedizinisch behandeln lässt – und dazu beiträgt, dass sich „BigPharma“ bereichert.

    Ein merkwürdiger Vorwurf, wenn man bedenkt, was sich mit diversen Produkten der „Alternativen“ verdienen lässt…

    Oft ist auch der Vorwurf zu hören, „Schulmedizin“ wäre schließlich ein unausgegorenes Konzept, da sich Empfehlungen immer wieder ändern. Und Patienten mit verschiedenen Krankheiten heute anders behandelt werden als vor zehn Jahren. Obwohl man behauptet hat, die Behandlung wäre richtig. Was sie auch war, sich aber zum Glück weiterentwickelt hat.

    Tatsächlich habe ich noch nie gehört, dass Esoteriker ihre Methoden in Frage stellen. Wenn es je Schlagzeilen gab wie: „Besser Rosenquarz unter das Kopfkissen als Tigerauge?“ oder „Feng Shui: Reichtumsecke falsch berechnet?“, dann habe ich diese verpasst.

  9. @Miriam:

    Es ist aber nun mal so, dass „Schulmedizin“ negativ konnotiert ist und wird – und ganz gezielt, um das, was ich nur als wissenschaftliche Medizin bezeichne, in eine starre, verknöcherte Ecke zu stellen.

    Allerdings würden die Äußerungen der „Alternativen“, die Du anführst, auch ganz ohne „Schulmedizin“ auskommen – und tun das auch.

    Was Wissenschaft ist und vor allem, was sie nicht ist, wissen die meisten Leute ja nicht – da ist es nicht so schwer, ihre herausragendste Eigenschaft, nämlich die ständige Selbstinfragestellung, das „Emporirren“, als Negativum darzustellen.

    Das geschieht auch mit dem „Schulmedizin“-Vorwurf (denn so ist er gemeint), aber auch ohne ihn. Nur wenn es das Wort nicht gäbe, würde sich nicht groß etwas ändern …

    Recht hast Du bei der Anmerkung, dass man nie davon hört, dass ein „alternativer“ Therapeut seine Methode revidiert oder, wie schon Prof. Prokop in den 1950er Jahren anmerkte, ein homöopathisches Mittel jemals vom Markt genommen worden wäre.

    So werden Dogmen gerechtfertigt, das kann aber nur geschehen, weil bei uns nicht schon in den Schulen vermittelt wird, was Wissenschaft ist: weder Religionsersatz noch dogmatisch, weder Weltanschauung noch elitär, sondern eine Methode zum Erkenntnisgewinn.

  10. @Uwe Endruscheit

    Ja, da stimme ich Ihnen zu. Aber schade finde ich es trotzdem – denn für mich bedeutet der Begriff „Schulmedizin“ etwas sehr Positives.

    Mir ist auch aufgefallen, dass diese oft sehr unterschwellig angegangen wird. Das merkte ich besonders, als die Impfungen gegen Corona aufkamen. In einem Beruf arbeitend, bei dem ich zu den Priorisierten zählte, bekam ich einen schnellen Impftermin. Und hörte Aussagen wie: „Vertraust du deinem Immunsystem nicht?“
    „Glaubst du nicht, dass gesunde Ernährung besser wäre?“
    „Willst du nicht abwarten, bis mehr Erfahrungen mit der Impfung vorliegen?“ („Die Schwester meiner Kollegin hat eine ehemalige Nachbarin deren Cousine kurz nach der Impfung starb.)

    Mir wurden damit unterstellt (fälschlicherweise), dass ich gesunde Ernährung eher unwichtig finde. Und dass ich lieber Erfahrungen mit dem Wildvirus sammeln sollte, als mit einer erprobten Impfung.

    Was ich meine: Vertrauen in die Schulmedizin wird mir als Misstrauen in alles Mögliche ausgelegt. Und im Bezug auf die Impfungen hat es für mich erschreckende Dimensionen angenommen.

    Was Homöpathie anging, schrieb ich ja bereits: Mehrere Homöopathen konnten mir hervorragend helfen. Aber nicht wegen der Globuli. Sondern, weil sie sich Zeit für die Anamnese und Untersuchung nahmen, die sonst niemand aufbrachte. Auch der scharfe Blick auf den Patienten half mir.

    So fiel der Homöpathin auf, dass ich teilweise leicht zitterte – und brachte dies mit einem bestimmten Nährstoffmangel in Verbindung, der kurz darauf mittels Blutbild bestätigt wurde. Und mit Medikamenten aus der Schulmedizin verschwand. Ich hatte mich mit dem Zittern längst abgefunden.

  11. Keine allgemeine Einigkeit offenbar. Aber natürlich muss man so sprechen, dass man verstanden wird, auch wenn man ein eigenes Verständnis der Begriffe hat.

    Wobei…

    Diejenigen Angehörigen der Öffentlichkeit, die aufgeklärt sind und die „alternative“ „Medizin“ ablehnen, werden in einer Diskussion sagen, dass sie sich nur schulmedizinisch behandeln lassen und meinen das Wort dann durchaus positiv.

    Und zum Schmunzeln: Manche Ärzte mit Zusatzbezeichnung Homöopathie sagen in Diskussionen beschwichtigend, sie seien ja vor allem Schulmediziner und meinen es dann ebenfalls positiv – ausgerechnet die.

  12. Interessant finde ich es, noch nie jemanden begegnet zu sein, der mir sagte, er lasse sich komplementärmedizinisch behandeln. Ich finde, das Wort klingt sehr wissenschaftlich. Auch wenn dies natürlich nicht der Fall ist.

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