gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Ende einer „Posse“: Der Heilpraktiker-Prozess von Ingolstadt vor dem Urteil

| 12 Kommentare

Das Verfahren werde sich über Monate ziehen, ein Urteil sei für Anfang Februar 2022 zu erwarten, orakelten die regionalen Medien wie BR24 und Süddeutsche Zeitung, als im Juni 2021 in Ingolstadt der Prozess gegen eine Heilpraktikerin aus Schrobenhausen und einen Ingolstädter Unternehmer begann.

Mittlerweile sind fast zwei Jahre ins Land gegangen – und wir sind immerhin schon beim Plädoyer der Staatsanwaltschaft angelangt.

Zur Erinnerung:

2019 berichtete Stern-TV über eine Krebspatientin, die sich von der besagten Heilpraktikerin in Schrobenhausen (Bayern) ein „Wundermittel“ aus Wasser, Zucker, Aminosäuren und Proteinen namens BG-Mun für 5900 Euro pro Packung aufschwatzen ließ und dafür ihre Chemotherapie abbrach.

Die Patientin starb im Juli 2019 mit 52 Jahren.

Nach der Ausstrahlung des Fernsehbeitrags verhängte das Landratsamt ein Berufsverbot gegen die Heilpraktikerin und die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Seit dem 18. Juni 2021 stehen die Heilpraktikerin und der Hersteller beziehungsweise Vertreiber von „BG-Mun“ wegen gewerbsmäßigen Betrugs (in 17 bzw. 18 Fällen) und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz vor Gericht:

Die beiden Angeklagten sollen gemeinsam die Not kranker Menschen ausgenutzt haben. Manchen ihrer Patienten versprach die Heilpraktikerin eine „99,9-prozentige Heilung innerhalb von drei Monaten“, so die Anklageschrift. In Wirklichkeit, so die Staatsanwaltschaft, verfügt „das Präparat über keine pharmakologische Wirkung“. Insgesamt soll ein Schaden von rund einer halben Million entstanden sein.

Lange Zeit trat der Prozess auf der Stelle, die Lokalmedien schrieben von einer „Posse“:

Die Verteidigung stellt immer neue Anträge und streitet sich mit dem Richter […] Immer lehnte die Kammer ab, nicht immer konnten Richter und Staatsanwaltschaft ihre Contenance wahren. Die Stimmung gilt als vergiftet.

Am Mittwoch hielt nun die Staatsanwältin ihr mehrstündiges Plädoyer, in dem sie für die angeklagte Heilpraktikerin eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten forderte. Den Unternehmer erwartet möglicherweise eine noch längere Zeit im Gefängnis:

Das Handeln der Angeklagten zeuge von „erschreckender Skrupellosigkeit“ und lasse die Existenz jeglicher Moral vermissen.

Auf verwerfliche Art und Weise hätten die Heilpraktikerin Renate G. und der Unternehmer Ulrich B. Todkranke betrogen und ihnen das Geld aus der Tasche gezogen. Sie hätten ihnen Heilung durch das Präparat BG-Mun versprochen, das aber nichts weiter sei als ein „Abfallprodukt“, unwirksam und ohne Zulassung als Arzneimittel.

Und zwar nicht, weil sie den Schwerkranken helfen wollten, sondern nur, um sich selbst zu bereichern.

Das Urteil soll Ende Mai verkündet werden.

Zum Weiterlesen:

  • Neu erschienen: „Vorsicht Heilpraktiker“ von Edzard Ernst, GWUP-Blog am 22. März 2023
  • Video: Stern-TV mit der Chronik eines Heilpraktiker-Skandals, GWUP-Blog am 27. Juni 2021
  • Nach „stern TV“: Landratsamt entzieht BG-Mun-Heilpraktikerin die Zulassung, GWUP-Blog am 9. Oktober 2019
  • Stern-TV-Video: Tödliche Abzocke bei der Heilpraktikerin mit einem Krebs-„Wundermittel“, GWUP-Blog am 29. September 2019
  • Prozess in Ingolstadt: Mit Zuckerwasser gegen Krebs, Süddeutsche am 18. Juni 2021
  • Landgericht Ingolstadt: Betrug mit wirkungslosem Krebs-Mittel, BR am 18. Juni 2021
  • Prozess in Ingolstadt: Wie Todkranken das Geld aus der Tasche gezogen wurde, Süddeutsche am 29. März 2023
  • Das Krebs-Wunder, das zum Albtraum wurde, SZ+ am 28. März 2023

12 Kommentare

  1. Wie stehen die Chancen einer Verurteilung? Lassen sich die juristischen und politischen Konsequenzen abschätzen?

  2. Die Homepage der Natur(un)heilpraxis existiert immer noch. Es werden dort auch noch Termine angeboten, allerdings sollen die auf den Anrufbeantworter gesprochen werden. Man würde sich dann baldmöglichst zurückmelden. Na ja.

    Führt etwa die Tochter (die „Medizinerin“ mit dem „Abschluss“ LMU München) den Laden weiter?

  3. @ Carsten Ramsel

    Ja natürlich. „Bedauerlicher Einzelfall“. „Verwirrte Einzeltäter“. „Schwarze Schafe, aufs schärfste zu verurteilen“ etc. a.n.

  4. Die Haftstrafen , die gefordert werden sind auf jedenfall zu gering.

    In minderschweren Fällen kann es bis zu 5 Jahre hoch gehen. Hier aber haben wir es mit einem schweren Fall zu tun da „gewerbsmäßig“ von beiden betrieben. Wie kann es da sein, das Renate G. nur 3 Jahre 10 Monate erhält und Ulrich B. 8 Jahre bekommen soll.

    Der Unterschied im Geldbetrag darf hier kein Kriterium sein. Unfassbar!

  5. Wieso dürfen Menschen ohne medizinische Ausbildung überhaupt Patienten behandeln? Es ist ein Skandal.

  6. @RPGNo1:

    Das könnte ich mir zumindest gut vorstellen.

    Man könnte lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre: Pfuschenden Ärzten würde in solch einem Falle straf- , zivil- und standesrechtlich zu Leibe gerückt werden. Aber diese Laienspieltruppe scheint sich praktisch alles erlauben zu können, weil es ja schon an einer rudimentären Regulierung dieser Branche fehlt.

  7. Bitte nie vergessen:

    Diese Leute stehen nicht vor Gericht, weil sie PatientInnen völlig inadäquat „behandelt“ haben oder weil sie irgendeinen medizinischen / therapeutischen „state of the art“ unbeachtet gelassen hätten.

    Sie stehen wegen gewerbsmäßigen Betruges vor Gericht.

    Jedenfalls die Heilpraktikerin genießt nach wie vor einen gewissen Schutz, weil sie sich auf die berühmte „Therapiefreiheit“ berufen kann. Das zieht nicht so richtig in diesem Fall, weil wegen des hohen wirtschaftlichen Gewinns der Betrugsvorwurf in den Vordergrund geraten ist. Das wiederum wegen der belegten „Zusammenarbeit“ mit dem Hersteller des „B-mun“-Zeugs.

    Hätte sie in ihrem Hinterzimmer selbst ein Mittelchen zusammengemixt und verabreicht, zudem zu einem halbwegs angemessenen Preis, würde ihr als Heilpraktikerin mit nahezu unbegrenzter Therapiefreiheit vermutlich – gar nichts passieren.

    Will sagen: das Kernproblem „Heilpraktikerwesen“ bleibt auch in diesem Prozess letztlich außen vor – die gesetzliche Figur des „Ausübenden der Heilkunde ohne Approbation“ steht als unsichtbarer Elefant auch hier im Gerichtssaal.

    Aus dem gleichen Grund ist der bekannte Fall „Klaus R. aus Brüggen-Bracht“ seinerzeit auch nur wegen des Fahrlässigkeitsvorwurfs, eine ungeeignete Waage verwendet zu haben, ausgeurteilt worden.

    Nicht, weil der Angeklagte ein nicht zugelassenes und nicht einmal klinisch ausgetestetes Mittel verwendet hatte, was jeden Arzt außerhalb der Anwendung in einer genehmigten Studie sofort vor den Kadi gebracht hätte.

    Deshalb sitzt auch im aktuellen Fall „der Gesetzgeber mit auf der Anklagebank“, wie ich es in einem Kommentarartikel zum Fall Brüggen-Bracht formuliert hatte:

    https://scienceandsenseblog.wordpress.com/2019/07/17/der-gesetzgeber-und-die-anklagebank-in-krefeld/

    Das Gerede vom „Einzelfall“ ist nur insofern berechtigt, als dass die Zufälle dieses „Einzelfalles“ die Causa überhaupt erst justiziabel machen. Wäre die Gewinnsucht der Angeklagten nicht so ausgeprägt gewesen, wäre es auf business as usual hinausgelaufen.

    Wie vermutlich eine Unzahl von „Einzelfällen“, die ja nicht gleich mit dem Tod von PatientInnen enden, aber gleichwohl Schaden anrichten.

  8. Es ist bedauerlich, dass man lediglich über den Straftatbestand „Betrug“ einen derartigen Prozeß führen kann. Was natürlich die Fehlleistungen diverser anderer Heilpraktiker vorerst nicht berührt.

    Besser wäre es gewesen, wenn man die Heilpraktikerin wegen einer fahrlässigen (besser gesagt grob fahrlässigen) oder gar vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge hätte anklagen können.

    Denn selbst wenn sie keinerlei medizinische Qualifikation haben dürfte, hätte sie erkennen müssen, dass irgendwelche Mischungen diverser Proteine und Salze in Wasser keinerlei Relevanz für die Behandlung von Krebs haben können.

    Und deren Wirksamkeit gleichzusetzen ist mit der Behandlung nach der „GMN“ des verblichenen G. R. Hamer. Aber wie von Hern U. Endruscheit erwähnt, die „Therapiefreiheit“ eines HP ist leider unantastbar.

    Und das Heilpraktikerunwesen scheint wirklich profitabel zu sein: in meinem Städtchen mit ca. 32000 Einwohnern habe ich gefühlt mehr (ca. 40) Heilpraktikerpraxen gesehen als Arztpraxen.

  9. @Bernd Harder:

    Super Verteidigung – natürlich hat jede/r das Recht, eine Behandlung, gleich welcher Art, abzulehnen. Ich habe ja auch das Recht, jedwede Behandlung durch einen Heilpraktiker abzulehnen. Daher hat der Kernsatz der Verteidigung im Grunde nur zum Inhalt, dass mir trotz der Existenz von Heilpraktikern erlaubt sei, einen Arzt aufzusuchen.

    Pseudologik der trivialsten Form – aber was sollen die Anwälte schon machen … ?

    Im Übrigen stehen Rechte der Betroffenen und deren Verhalten nicht zur Debatte und nicht in der Anklage, die ohnehin in der Hauptsache Betrug und nicht unmittelbar therapeutisches Fehlverhalten betrifft.

    Zum Gehalt der Verteidigungsstrategie sollten sich die Beteiligten einmal ansehen, was zu dieser Position bereits 1925 (nachlesbar in der Ausgabe des BMJ vom 17.10.1925) der damalige Präsident der London Society of Medicine, Sir H.J. Waring, ausführte:

    „Was die Ausübung der Heilkunde betrifft, so wird von manchen die Auffassung vertreten, die Krankheit des Einzelnen sei seine eigene Angelegenheit und er habe das uneingeschränkte Recht, jeden, ob ausgebildet oder nicht, zur Behandlung heranzuziehen.

    Es kann aber doch kein Zweifel daran bestehen, dass es nichts anderes als gefährlicher Betrug ist, sich dem Ratsuchenden als qualifiziert für die Behandlung von Krankheiten und die Betreuung von Kranken darzustellen, indem man fälschlich behauptet, man sei im Besitz von entsprechendem Wissen und Erfahrung.

    Niemand hat das Recht, eine solche Täuschung zu begehen. Es sollte doch wohl die Pflicht des Staates sein, solche gefährlichen Täuschungen und Irreführungen zu verhindern, insbesondere wenn sie nicht nur eine einzelne Person, sondern potenziell auch andere Menschen betreffen.“

    So einfach ist das.

    Und bis heute gibts keine klare Linie dazu. Sonst gäbe es Heilpraktiker hierzulange (jedenfalls in der heutigen Ausprägung) gar nicht, nicht diesen Prozess und keine Geschädigte.

  10. @ Udo Endruscheit:

    Schönes Zitat zur Frage, was doch wohl die Pflicht des Staates sei. Die direkte Folge daraus müsste lauten, den idiotischen Binnenkonsens endlich zu liquidieren.

    So lange der gesetzlich kodifiziert ist, gilt nach herrschender Rechtslehre der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung: was in irgend einem Gesetz erlaubt ist, gilt in jedweder Rechtmaterie als gerechtfertigt.

    Wie Cato der Ältere schließe ich diesen Beitrag mit dem Ausruf: im Übrigen bin ich der Meinung, das der Binnenkonsens abgeschafft gehört.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.