Neues Video von Skeptics in the Pub Wien:
Können wir uns auf die evidenzbasierte Medizin verlassen? Beispiel Antidepressiva
Die Evidenzbasierte Medizin ist ohne Zweifel eine kulturelle Errungenschaft. Doch gibt es problematische Aspekte, welche am Beispiel von Antidepressiva gut zu demonstrieren sind.
Dazu gehören unter anderem die unseriöse Anwendung wissenschaftlicher Methoden, fragwürdige Zulassungskriterien und die Einflussnahme der Industrie auf die Forschung und klinische Praxis. Dies führt in der Regel zu einer Überschätzung des Nutzens und einer Unterschätzung der Schäden durch Antidepressiva und andere Medikamente bzw. nicht-medikamentöse Behandlungen.
Es gibt aber auch Lösungsansätze wie die Vorab-Registrierung von klinischen Studien, unabhängige Replikationen und ein kritischer Umgang mit Interessenskonflikten.
Referent ist der klinische Psychologe Dr. Martin Plöderl von der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg.
Zum Weiterlesen:
- Grams‘ Sprechstunde: Sind Antidepressiva gute Medizin? detektor.fm am 22. Dezember 2022
- Wie die Evolution uns depressiv machte, Zeit-Online am 25. Dezember 2022
3. Januar 2023 um 14:32
Dem geschätzten Dr. Plöderl ist hinsichtlich der Problematik der Antidepressiva und ihrer wissenschaftlichen Basis ohne Zweifel zuzustimmen.
Ich fühle mich nur sehr unwohl dabei, solche Problemlagen gleich mit „DER evidenzbasierten Medizin“ zu konnotieren. Man sollte klar zwischen dem EbM-Konzept und den Unzulänglichkeiten unterscheiden, die es in der Praxis erschweren bzw. sogar teils unmöglich machen, ihrem Ideal (einer nach wissenschaftlichen Maßstäben gesicherten Evidenz) nahezukommen.
Man stellt ja auch nicht das Konzept des motorgetriebenen Fahrzeugs in Frage, weil es schlechte Autos gibt und auch gute von Pannen heimgesucht werden.
Das mag jetzt etwas überspitzt klingen. Wenn man sich allerdings mit Pseudomedizin und vor allem der scheinwissenschaftlichen Mimikry ihrer Proponenten beschäftigt, so sieht man die Gefahren darin, dass in solchen Kontexten gleich „die“ EbM mehr oder weniger in Frage gestellt wird. Gerade erst hat ein auch auf diesem Blog wohlbekannter Homöopath aus dem süddeutschen Bereich beim INH-Facebook-Account genau mit dem „Beispiel“ der Antidepressiva und ihrer schwachen Evidenz sowohl seine Pseudomedizin zu rechtfertigen als auch das EbM-Konzept aufzuweichen versucht.
Die Gedankenkonstruktion dazu: wenn man – zugelassene – Antidepressiva mit ihter unbestreitbar schwachen Evidenz der EbM zurechnet, dann muss das für die Homöopathie (unter Berufung auf ihre Pseudo-Bestätigungs-Forschung, die aus bekannten Gründen auch immer mal positive Ergebnisse erbringt) auch so sein – oder, vice versa, das Konzept der EbM müsse als gescheitert gelten.
Nein. Die EbM ist ein ideales Konzept, dem es – so auch Sackett – gelte, sich auf vielen Feldern anzunähern und es auch selbst methodisch weiterzuentwickeln – in einem fortlaufenden Prozess. Und bei den Antidepressiva sieht man doch ganz unmittelbar, wie die EbM als Methode gerade die so wichtige Evidenzdiskussion erst herbeiführt.
Eine sehr ähnliche Argumentation fand sich vor einiger Zeit in einem Aufsatz beim British Medical Journal unter dem Titel „The Illusion of Evidence based Medicine“ (sic!). Auch hier wurden Mängel und Unzulänglichkeiten der medizinischen Forschung dem EbM-Konzept als solchem angelastet und damit versucht, Steine aus der Mauer zu brechen:
https://www.bmj.com/content/376/bmj.o702
Es gab bei den „Quick Responses“ dazu dankenswerterweise viel Widerspruch. auch von mir:
https://www.bmj.com/content/376/bmj.o702/rr-39
Vorsicht ist geboten, den erklärten Gegnern der EbM ebenso wie denen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen, nicht auch noch Munition zu liefern. Wie ich versucht habe zu beschreiben, ein reales Problem.
Ich habe bei „Forum Wissenschaft“ gerade einen Beitrag unter dem Titel „Evidenzbasierte Medizin – Ein unvollendeter Paradigmenwechsel“ veröffentlicht, der dieses Thema auch anschneidet (irgendwann auch online verfügbar).
3. Januar 2023 um 23:43
@Udo Endruscheit
Ihre Bedenken und Skepsis können besser nicht formuliert werden. Ich teile Ihren Einwand und bedanke mich.