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Wo im sechsten Glas der Braunton zu hell ist: Das Thema „Heilpraktiker“ bei Zeit-Online

| 6 Kommentare

Mit dem ersten Satz ist eigentlich alles gesagt:

Eva Kupper kocht Urin.

Die Münchner Heilpraktikerin lässt sich von Zeit-Redakteur David Gutensohn nur deswegen bei der Arbeit begleiten,

… weil sie zeigen will, dass nicht alle Heilpraktiker medizinische Querdenker sind.

Und dann demonstriert Kupper in aller Länge und Breite, warum „das Berufsbild des Heilpraktikers entweder ganz abgeschafft oder radikal überarbeitet“ gehört, wie der Münsteraner Kreis in seinem neuen Memorandum gerade erst wieder betont:

Sie hält sechs Reagenzgläser voller Urin in einen Wasserkocher mit geöffnetem Deckel. Jetzt muss sie eine Minute warten, ein Ablauf, den sie gut kennt, schließlich macht sie das mehrmals in der Woche. Dann zieht sie die Gläser mit einer Holzklammer heraus und hält sie in das Licht vor einem Fenster. „Die Nierenfunktion ist gut, das sehe ich im zweiten Glas. Im vierten Glas sieht man einen cognacfarbenen Ton, der für eine intakte Galle spricht. Aber im sechsten Glas ist der Braunton zu hell, die Leber ist eher schwach.“

Weiter geht’s mit Irisdiagnostik („Ich erkenne da Probleme im Verdauungstrakt, einen sogenannten kalten Magen“), Globuli und Schüßler-Salzen, außerdem bietet sie „Akupunktur, Ayurveda-Massagen oder den Aderlass“ an, „eine Prozedur aus der Antike, bei der Patienten eine große Menge Blut abgeben, was sie angeblich von innen reinigen soll“.

Daneben wohnt der Zeit-Autor einer Ozon-Behandlung ebenso bei wie Vitamin-C-Infusionen und Dunkelfeldmikroskopie.

Wissenschaftlich bewiesen ist das alles nicht,

merkt Gutensohn trocken an, der seine Gastgeberin sichtlich nicht bloßstellen will, aber auch nicht sonderlich angetan wirkt von dem dargebotenen Mumpitz. Im Grunde desavouiert Kupper sich permanent selbst, während der Zeit-Autor nur noch ein paar One-Liner zu setzen braucht:

Das sieht beeindruckend aus, hat aber keinen medizinischen Nutzen.

Alles in allem zeigt der Beitrag deutlich, dass das Problem des Heilpraktikerunwesens nicht „schwarze Schafe“ sind (beziehungweise „Einzelfälle, unseriöse Kolleginnen und Kollegen“, über die sich selbstredend auch Eva Kupper „ärgert“). Sondern dass wir uns hier in einer Parallelwelt von Laienbehandlern befinden, die fast alles dürfen – aber eben nicht das können, was sie zu können meinen.

Kupper „fühlt“ sich nach eigener Aussage „gut ausgebildet“ – aber in was?

Unseriöse Methoden können nun mal nicht seriös praktiziert werden. Daran ändert auch persönliche Integrität nichts.

Gutensohn sieht die „Erfolge“ von Heilpraktikern denn auch nüchtern:

Das können Zufälle sein, viele Beschwerden verschwinden einfach mit der Zeit. Noch häufiger tritt bei Patienten von Heilpraktikern der Placebo-Effekt ein.

Und er arbeitet das heraus, was Heilpraktiker tatsächlich „von vielen Ärztinnen und Ärzten unterscheidet“:

Kupper hat Zeit.

Dafür zahlt ihre Patientin „nach einer Stunde Beratung“ auch mal eben so 127,10 Euro. Per Kreditkarte.

Zum Weiterlesen:

  • Heilpraktiker: Eine Praxis, viel Placebo, Zeit-Online am 21. März 2022
  • Irisdiagnostik: Ein Musterbeispiel für die Faktenresistenz von Heilpraktikern, GWUP-Blog am 19. September 2018
  • Das „Heilpraktiker-Gutachten“ jetzt im aktuellen Podcast von Natalie Grams-Nobmann, GWUP-Blog am 8. Juli 2021
  • Grams‘ Sprechstunde: Heilpraktiker beschränken, um Patienten zu schützen, spektrum am 17. November 2020
  • Ein kurzer Abriss zur Heilpraktiker-Gesetzgebung, Onkel Michael am 5. Juli 2021
  • „Gefährliche Hybris“: Interview mit Dr. Christian Weymayr über das Heilpraktiker-Unwesen, GWUP-Blog am 24. Januar 2018
  • Gegen das „Adeln und Schützen“ von Homöopathie und Co.: Das Münsteraner Memorandum Wissenschaftsorientierte Medizin, GWUP-Blog am 20. März 2022

6 Kommentare

  1. Tja.

    Da gibt es eigentlich gar nichts zu kommentieren. Eigentlich wäre mein Ansatz ja, dass hier wieder mit einem „Einzelfall“ operiert wird, vom ersten Wort der Überschrift angefangen. Aber was soll man sagen – die Selbstzerlegung ist mal wieder so evident, dass man beinahe den HP-Stand als Abstraktum schon wieder in Schutz nehmen möchte …

    Wieder eine Demonstration a) der grundsätzlichen Schieflage der Existenz einer „zweiten Medizin“ und b) der erstaunlichen bis erschreckenden Hybris, die davon hervorgebracht wird.

    Wie auch hier:

    https://keineahnungvongarnix.de/?p=7144

  2. @ Udo Endruscheit

    Ein Einzelfall ist das ganz sicher nicht.

    Ich hatte vor vielen, vielen Jahren ein „Phase“, in der ich diesen Themen noch ziemlich naiv gegenüber getreten bin und so einiges ausprobiert habe. Da war ich auch einmal bei jemandem, der so ziemlich dasselbe Programm abgespult hat, wie oben beschrieben.

    Auch mein Urin wurde gekocht, (vermeintliche) Nahrungsmittelunverträglichkeiten per Bioresonanz ermittelt, eine „Leberreinigung“ mittel Grapefruit/Olivenöl-Gemisch und Bittersalz durchgeführt. Es war übrigens eine „Klinik“ für FX-Mayr-Kuren.

    Heute würde ich wahlweise schreiend davonlaufen, oder mich mit einem Lachkrampf am Boden winden.

  3. Moin,
    ich bin examinierte PTA. Wir hatten in meiner Ausbildung auch das Thema Homöopathie und Heilpraktik.

    Bei aller Liebe – ich verstehe nicht, wieso die Kassen das bezahlen – und diverse andere, sinnvolle Therapien und Behandlungen (diverse IGeL) nicht. Um genau zu sein: Chiropraktor (nicht Chiropraktiker!) – das sind Leute, die haben im Ausland (nur nicht in der BRD) mehrere Jahre studiert – und nicht ein paar Stunden als Onlinekurs absolviert. Da gibt es zwar bei meiner Kasse eine finanzielle Unterstützung, aber das wars.

    Aber für Zuckerkügelchen bzw unsinnige Untersuchungen wird bezahlt. Klar nehme ich auch diverse pflanzliche Produkte zu mir, anstatt zur Pharmazie/Chemie zu greifen. Aber man muss auch bei der Realität bleiben.

    Cannabis wäre ein Beispiel. Ich kann mich mit Novalgin oder IBU 800 vollstopfen und um den Magen zu schonen noch Pantoprazol schlucken, im schlimmsten Fall von Tilidin abhängig werden – oder ich rauche eine Tüte. Ich kann Magenpräparate zu mir nehmen oder ich trinke einen Kamillentee. Aber die ganzen Untersuchungen wie Irisdiagnose, Urinkochen, Runen werfen – irgendwo hört es auf.

    Wir haben keinen Krieg (ok, Ukraine, hätte ich meinen Kommentar vor 1 Jahr geschrieben würde alles stimmen), der Heilpraktikern eine gewisse Arbeitsberechtigung geben würde. Hier wünschte ich mir die Regelung wie in Österreich. Der einzige Vorteil von Heilpraktikern ist: sie können sich Zeit für ihre „Patienten“ nehmen. Das wars auch schon. Psychologisch mag das in einigen Fällen sinnvoll und hilfreich sein.

    Um dem Ganzen (in meinen Augen) Blödsinn ein für alle Mal ein Ende zu setzen würde ich mich freuen, wenn man tatsächlich mal anständige, vergleichende, für alle nachvollziehbare und belegbare Studien machen würde. Gern übergreifend auf die GNM.

  4. Für 127 Stutz bar auf die Hand führt auch jeder Hausarzt gerne ein einstündiges Beratungsgespräch mit seinen Patienten.

  5. „Heilpraktiker und Ärzte: Medizinische Parallelwelten“:

    https://medwatch.de/2022/03/25/heilpraktiker-aerzte-parallelwelten/

  6. @Martina Rheken

    Danke für den Link. Die aufgeführten Zahlen und die Vergleiche zwischen HP und Ärzten sehe ich als sehr aufschlussreich an.

    Der letzte Absatz schließlich summiert, worum es der HP-Industrie wirklich geht, auch wenn die Apologeten und Mitwirkenden der Branche sich noch so sehr gegen die Erkenntnis wehren:
    Geld, Geld und nochmals Geld

    Gegenwärtig erwirtschaften etwa 30.000 deutsche Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker einen bundesweiten Umsatz von jährlich 1.2 Milliarden Euro. Mit 82.000 Euro pro Praxis ist ihr Wirtschaftszweig laut Auswertung des Statistischen Bundesamts fast ebenso geschäftig wie Kosmetiksalons oder Bestattungsinstitute.

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