Dass eine Forschergruppe aus China mal wieder den Yeti finden will, wie Spiegel-Online vor fünf Tagen meldete, konnte man noch schmunzelnd wegklicken. Heute aber überfallen uns nun die Kollegen von der Welt unversehens mit der Schreckensmeldung: „Russische Behörden warnen vor Yetis in Sibirien!“
Gut, irgendwelche „russischen Behörden“ hatten 1989 auch eine Ufo-Landung bei Woronesch gemeldet … Aber das nur nebenbei.
Jetzt scheint die Lage wirklich ernst:
Nach den verheerenden Bränden vom Sommer seien die „Schneemenschen“ gezwungen, außerhalb der Wälder nach Futter zu suchen. ,Sie stehlen sogar Haustiere und machen auch nicht davor Halt, Bären das Futter wegzufressen‘, warnt die Verwaltung der Region Kemerowo nach Angaben der Agentur Itar- Tass.“
Die armen Bären. Sowas. Und wir dachten immer, der Yeti sei selber ein Bär.
Dunkle Strähnen hängen dem Wesen im Gesicht. Urgewaltig bleckt es sein Gebiss. In der Antarktis und auf den Gipfeln des Himalaja wurde es gesichtet. Behende läuft es auf drei Zehen, und wenn es Laute von sich gibt, klingt es fast wie Hochdeutsch. Richtig – das ist der Reinhold Messner.“
So spöttelte Der Spiegel im Herbst 1998 über den Bergfex, als der mit einer vermeintlichen Sensation vor die Weltpresse trat. Nach zwölf Jahren Suche und dreißig Expeditionen hatte Messner endlich das Rätsel um den sagenumwobenen Schneemenschen Yeti gelöst. Als der ihm zwischen Indien und Pakistan wie der Leibhaftige gegenüberstand und Messner seine Kamera auslöste, wähnte sich der Extrembergsteiger wohl schon im zoologischen Olymp.
Doch auf den Gesichtern der versammelten Reporter spiegelte sich nur Irritation:
Herr Messner, wo ist denn in Ihrem Buch das Foto vom Yeti?“,
wollte eine junge Journalistin bei der Präsentation auf Schloss Juval in Südtirol wissen. „Das werden Sie darin nicht finden“, klärte der bärtige Obersteiger sie lachend auf. „Da sehen Sie nur Bären.“
Und wirklich: Die Fotos, die Messner in seinem Buch „Yeti. Legende und Wirklichkeit“ und auch bei seiner anschließenden Vortragsreise präsentierte, erinnerten auf den ersten Blick eher an den Teddy aus der „Bärenmarke“-Reklame als an ein mythisches Ungeheuer. Der Focus lästerte über „Des Bergsteigers Märchenstunde“, während die Süddeutsche die Schlagzeile vom „Bär zum Aufbinden“ kreierte.
Solche geballte Ignoranz verdross den erfolgsverwöhnten Kletterer nicht wenig: „Gute Geschichten sind immer banal“, verteidigte er sich lahm. Dabei sei die Sache doch ganz einfach:
Der Yeti ist eine Summe aus Phantasie, Wunschdenken, Legende und einem real existierenden Tier. Wenn ich diesen Bären in einen Zoo stelle oder untertags ansehe, so ist er nichts als ein einfacher Bär. Aber wenn mir dieses Tier nachts in der Wildnis auf zwei Beinen gegenübersteht, wird es zum Yeti.“
Im Klartext: Messner hat bei seinen Bergtouren nicht den sagenhaften Schneemenschen entdeckt, sondern den Yeti-Mythos entschlüsselt:
Meine Aufklärungsgeschichte besteht darin, dass ich die genaue Legende des Yeti aus dem Himalaya erzähle und deckungsgleich dazu ein Tier vorstelle. Ein Tier wohlbemerkt, keinen Menschen oder Neandertaler. In seinem Verhalten, seinen Fressgewohnheiten, seiner Größe und seinem Haarkleid entspricht es der Legende. Das ist meine Arbeit gewesen.“
Die Berichte von dem bislang unbekannten Tibet-Bären (die Einheimischen nennen ihn „Chemo“ oder „Dremo“) hätten wohl schon vor Jahrhunderten eine Eigendynamik bekommen, durch die das Wesen mehr und mehr von der Realität weggeschoben worden sei.
So weit, so gut. Was Messner indes offenkundig unterschätzt hat, ist die Kraft, die Langlebigkeit und die Vektorierung von Mythen. Denn Yetis – Chemos und Dremos hin oder her – gibt’s beileibe nicht nur im Himalya.
„In der ehemaligen Sowjetunion wurden Affenmänner schon lange … regelmäßig gesichtet und mit bizarr klingenden Legenden geadelt“, schrieb der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke im Skeptiker 4/2001, „und zwar im riesigen Faltengebirge, das von Turkestan im Westen über ehemalige Sowjetgebiete bis nach China im Osten reicht.“ Und weiter:
Aus dem Altaigebirge und der südlichen Mongolei werden Affenmänner ebenso berichtet wie aus dem Kaukasus, und so erklärt es sich auch, dass die Berggeschöpfe unter Dutzenden von Namen, besonders als mongolische Alma, bekannt sind. Der Glaube an sie saß so tief, dass zwei Universitätsprofessoren in der Mongolei und Russland sogar noch bis Ende der siebziger Jahre Hinweise auf die Tiermenschen sammelten. Schon damals waren die Almas stets groß und breitschultrig. Und sie hatten auch immer glühende Augen.“
Ähnlich endet auch der aktuelle Welt-Online-Artikel:
Lokale Medien bezweifelten die Berichte. ,Es gibt wenig Abwechslung in Sibirien – das sorgt offenbar für blühende Fantasie‘, kommentierte eine Zeitung. Auch in der Teilrepublik Kabardino-Balkarien hatten wiederholt Berichte über einen mysteriösen Affenmenschen (Kaukasus-Yeti) die Runde gemacht.“
Für den Mythen-Experten und Skeptiker-Redakteur Ulrich Magin sind Yetis denn auch durchaus keine Spinnereien, sondern
archetypische und mythische Erlebnisse der lebendigen Tradition eines Volkes … Der Wunsch, die Berge und Wildnis mit Drachen und zottigen Riesen zu bevölkern, ist immer noch tief in uns …
Etwas passiert im Kopf der Zeugen, wenn sie das, was sie undeutlich gesehen haben, mit etwas Bekanntem zu verbinden suchen. Sind die Erfahrungen bei aller Authentzität häufig vage – etwa die Begegnung mit der ungezähmten Natur –, so sind es die Deutungen nicht: Sie sind immer geprägt von Moden und den Denkmodellen des Zeitgeistes. Helle Lichter am Himmel waren erst Geister, dann Feuerdrachen und heute sollen es Raumschiffe sein. Drachen waren Wassergötter, dann unchristliche Monstren, später noch zu entdeckende Tiere und im evolutionstheorie-begeisterten 19. Jahrhundert überlebende Dinosaurier.“
Mag sein, mag nicht sein. In der Akte-X-Folge „Der See“ geht es ebenfalls um ein mysteriöses Ungeheuer. „Das sind erfundene Wesen!“, versucht darin die Skeptikerin Scully ihren Kollegen Mulder zu überzeugen. „Märchen, die einer Art kollektiver Angst vor dem Unbekannten entsprungen sind.“ Mulders Replik:
Ein Märchen, das aller Wahrscheinlichkeit nach einen Biologen und einen Pfadfinderführer verschlungen hat.“