Nach Jan Fleischhauer widmet heute auch SPON-Kolumnistin Sibylle Berg ihren Wochenbeitrag den Impfgegnern:
Zeigt sich am Impfbeispiel eine der Schwachstellen der Demokratie? Ist eine demokratische Gesellschaft nur so intelligent, wie ihre dümmsten Mitglieder?
Zieht sich der Graben zwischen Mitbestimmung, Freiheit und Macht der gewählten Regierung da, wo […] die persönliche Freiheit die geistige und körperliche Gesundheit der Anderen gefährdet, kurz: sich Einfalt gegen das Gemeinwohl wendet? […]
Wie kann man dafür sorgen, dass die Bevölkerung eines Landes einen ähnlichen Grad an Bildung und Verantwortungsbewusstsein erreicht, um ihren demokratischen Pflichten in einer Weise nachzukommen, die nicht nur auf den eignen Vorteil bedacht ist? […]
Vertraut man auf die Eigenverantwortung, und ignoriert so etwas wie Angst und Dummheit wegen Uninformiertheit?
Wie sollte der Staat beschaffen sein, in dem sie gerne leben, möchte ich alle fragen, […] die ihre Kinder nicht impfen lassen, aber schreien, wenn sich das Kind in einer Kita ansteckt, und sei es mit Läusen. Was wollt ihr und wie soll das aussehen? Ihr Motzer da draußen.“
Das deckt sich zum Beispiel auch mit dem, was Psiram über den seltsamen Blog Netzfrauen schreibt:
“Netzfrauen” bezeichnet wohl als Eigenbegriff ein geistiges (geschlechtsneutrales) Kollektiv, das einfach mal den ganzen Frust über die Gesamtsituation herausschreien will, ohne auch nur ansatzweise realitätsnahe Lösungsvorschläge zu unterbreiten.“
Als unmittelbare Reaktion darauf verblüfft uns Netzfrauen mit der staunenswerten Info, für das esoterikkritische Portal Psiram sei der Eso-Verein „Europäischer Berufs- und Fachverband für Biosens e.V.“ verantwortlich.
So sehen die Recherchen einer selbsternannten „Bildungswebseite“ aus, die sich auch in impfkritischen Beiträgen ergeht.
Wie schnell Impfverweigerer indes ihren Dünkel ablegen können, sobald sie persönlich betroffen sind, zeigt der Artikel
Learning the Hard Way: My Journey from #AntiVaxx to Science“
bei The Scientific Parent.
Darin beschreibt Tara Hills, wie ihre sieben nicht ausreichend beziehungsweise ungeimpften Kinder gleichzeitig Keuchhusten bekamen und noch eine fünf Monate alte Nichte ansteckten:
Right now my family is living the consequences of misinformation and fear. Vaccination is a serious decision about our personal and public health that can’t be made out of fear, capitulation or following any crowd. No one was more surprised than us to find solid answers that actually laid our fears to rest.“
Zum Weiterlesen:
- Impfgegner: Ihr Motzer da draußen, SPON am 18. April 2015
- Achtung, Impf-Mobber! SPON am 3. März 2015
- Mehr Bewusstsein für Masern-Impfung, ORF am 17. April 2015
- Netzfrauen – das Geschäft mit der Angst, Psiram am 17. April 2015
- Learning the Hard Way: My Journey from #AntiVaxx to Science, The Scientific Parent am 8. April 2015
- Sibylle Berg über Chlorbleiche und skeptische Argumente, GWUP-Blog am 12. Mai 2014
- Esoteriker sind unsympathisch – sagt Sibylle Berg, GWUP-Blog am 23. April 2011
- Dear Antivaxxer: This is why I do not care for you, Skewed Distribution am 26. März 2012
- Anti vaccine cult – violent threats against California Senator, Skeptical Raptor’s Blog am 15. April 2015
- Why is Critical Thinking so Hard to Teach? skeptic.com am 25. März 2015
- California’s measles outbreak is over, but vaccine fight continues, Los Angeles Times am 17. April 2015
- Kurt Tucholsky: Zur soziologischen Psychologie der Löcher, textlog.de
- Wie Muttern neulich Verschwörungstheoretiker und Impfgegner entsorgte und mich nicht mal fragte, Plazeboalarm am 8. Septembeer 2009
19. April 2015 um 09:32
So gut der Artikel von Frau Hills ist, so wenig wird er vermutlich unter dem Strich verändern. Denn wie sie in einem Update (in dem u.a. auch zu erfahren ist, dass die Kinder auf dem Weg der Besserung seien) selbst schreibt, war die „impfkritische“ Seite schnell mit den üblichen Anschuldigungen bei der Hand: Tara Hills habe ihre Geschichte erfunden und mache Propaganda für Big Pharma. Ihre ironische Reaktion ist übrigens dieselbe wie die vieler Skeptiker: „ich warte immer noch auf den Scheck“.
Von dieser Seite erhoffe ich mir wenig. Man kann vielleicht einige Impfungen nicht grundsätzlich ablehnende Eltern „erwischen“, die ggf. aus Unachtsamkeit Impfungen ausgelassen haben oder die „Kinderkrankheiten“ unterschätzen. Gefestigte Impfgegner erreicht kein externes Argument und kein Zeitungsartikel.
Denn, und da bin ich auch absolut nicht der Meinung von Frau Hills: mit Impfgegnern LÄSST sich nicht „diskutieren“. Diese sind an einer Diskussion oder echter Aufklärung auch nicht interessiert, sondern nur an Missionierung.
Hills schreibt, man solle impfskeptischen Eltern auf Augenhöhe begegnen und kritisiert (zu Recht) persönliche Beleidigungen und Ausfälle gegen diese Personenkreise. Das Problem auf der anderen Seite ist nur: wenn ich nur lieb und nett bin, hilft das auch nicht. Mit gefestigten Impfgegnern gibt es einfach keine Diskussion. Denn alles, was man an Belegen anführt, ist doch „gefälscht“.
Die Wahl ist für die Impfgegner nur, ob ich selbst zu den Täuschern gehöre oder nur zu den Getäuschten. Das ist klassische Verschwörungstheorie: es gibt die Verschwörer, es gibt die Schafe und es gibt die Wissenden. Die Impfkritiker halten sich selbst für Wissende, also sortieren sie den Rest der Welt in Schafe und Verschwörer.
Mit anderen Worten: ich kann mich von den Impfgegnern normalerweise entweder als dumm bezeichnen lassen oder als böse. Letztlich beginnt die „Diskussion“ daher bereits mit einem argumentum ad hominem, und das ist keine gute Basis für ein Gespräch.
Aus diesem Grund unterlasse ich es schlicht, mit Impfgegnern zu diskutieren. Wer tatsächliche Fragen zur Sicherheit und Wirksamkeit von Impfungen hat, der bekommt von mir ehrliche Auskunft. Wer Verschwörungstheorien äußert, wird von mir aber als Verschwörungstheoretiker bezeichnet.
Eben weil man diese sowieso nicht „bekehren“ kann. Solange mein Weltbild darauf basiert, dass mich alle anlügen, die nicht meiner Meinung sind, ist nichts zu machen. Aber vielleicht kann man „unentschiedene“ Personen so ein Stück weit in die richtige Richtung bugsieren, wenn man ihnen zeigt, wes Geistes Kind die „Kritiker“ sind.
19. April 2015 um 20:32
@trixi: also wenn ich den Artikel richtig überfliege, waren die Christlichen Wissenschaftler halt die einzige religiöse Organisation, die Ausnahme-Status hatte, und das wurde gekippt. Wichtiger ist die generelle kürzliche Änderung im australischen sozialen Sicherungsnetz: ohne Impfung keine Leistungen mehr.
Wobei ich den Hebel über Sozialleistungen für nicht übertrieben wirksam halte, und in gewisser Weise auch für diskriminierend. Einerseits ist es zwar logisch, wenn man von der Allgemeinheit Unterstützung möchte, zumindest ein Mindestmaß an reziprokem Sozialverhalten zu erwarten (und Nicht-Impfen ist meines Erachtens einfach rein faktisch asozial). Andererseits sind Impfverweigerer aber zu einem großen Teil ja gerade in den besser gestellten Bevölkerungsschichten zu finden, die am wenigsten auf Sozialleistungen angewiesen sind… und damit könnte diese Waffe eher stumpf bleiben.
Auch in Deutschland würde man über öffentliche Kindergärten und Kindergeld wohl die wenigsten Impfverweigerer „erwischen“; Brutstätten für Impf-„Skepsis“ sind ja zumindest dem Cliché nach Waldorfschulen und gentrifizierte Ecken wie Berlin Kreuzberg. (Und es wäre auch fraglich, ob ein Ansatz übers Kindergeld überhaupt verfassungskonform wäre.)
20. April 2015 um 07:13
@trixi: da es in Amerika sogar dem Arbeitgeber möglich ist, dir in deine Krankenversicherung reinzureden („Nein, für Verhütung zahle ich nicht, das ist gegen meine religiösen Überzeugungen!“), hält sich mein Optimismus in Grenzen. :-/
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