2001 formulierte König Charles III. erstmals seine Vorstellung von „integrativer Medizin“:
Im Kern geht es dabei um „das Beste aus beiden Welten“, also um einen Mix aus „Schul-“ und „Alternativ“-Medizin.
Aber was soll das eigentlich genau sein? Und wie soll das gehen?
Verkörpert „The best of both worlds“ möglicherweise jene britische Ärztin, die „in einem traditionellen indischen Kräutermix (Carctol) ein wirksames Krebs-Medikament entdeckt haben“ will, wie vor einigen Jahren durch die Medien ging?
Allerdings ist Carctol mitnichten eine „Alternative“ oder auch nur „Ergänzung“ zu irgendwas, weil vollkommen wirkungslos, wie Edzard Ernst schon 2009 schrieb.
In seiner aktuellen Spiegel+-Kolumne schildert Ernst denn auch einen konkreten Fall, bei dem ein Mann „unter großen Qualen“ nach einer mehrmonatige Behandlungsserie mit besagtem Carctol starb.
Hier im Blog haben wir schon öfter darüber geschrieben, dass es gar nicht möglich ist, die völlig konträren „Welten“ der evidenzbasierten und der „alternativen“ Medizin auf irgendeine Weise zusammenzuführen.
Auch Edzard Ernst legt in seinem Beitrag dar, dass in der Medizin nur das Wirksamste „das Beste“ bedeuten kann – genauer gesagt dasjenige Verfahren, das nachweislich mit dem besten Nutzen-Risiko-Profil einhergeht:
Wenn wir „das Beste aus beiden Welten“ in diesem Sinn verstehen, erscheint das Konzept zwar einleuchtend und attraktiv, aber zugleich ist es auch synonym mit dem der evidenzbasierten Medizin. Nach den Grundsätzen der EBM werden bekanntlich alle Behandlungsweisen befürwortet, die nachweislich mehr Nutzen als Schaden bringen.
So gesehen, schreibt Ernst weiter, sei die integrative Medizin kaum mehr als eine irreführende und kontraproduktive Ablenkung von wesentlichen Zielen der wissenschaftlich fundierten Heilkunde. Hinter den attraktiven Slogans vom „Besten beider Welten“ verberge sich oft „reine Quacksalberei“.
Und um noch einmal auf das Eingangsbeispiel von der „erfahrenen britischen Krebsforscherin“ zurückzukommen, die „Wunder“ gesehen haben will, seit sie Carctol verschreibt:
Diese und viele ähnliche Geschichten zeigen aus meiner Sicht, dass die integrative Medizin oft als Fassade für unausgegorene Konzepte dient, hinter denen manchmal Scharlatanerie die Gesundheit, das Wohlbefinden und das Bankkonto ahnungsloser Patientinnen und Patienten gefährdet.
Auch im Münsteraner Memorandum „Integrative Medizin“ von 2022 heißt es:
Die These vom „Besten beider Welten“ beeindruckt viele. Was jedoch unter dem „Besten“ zu verstehen ist, bleibt unklar. Viele ihrer Ansprüche sind elementare Bestandteile jeder guten Medizin und können somit nicht zu ihren charakterisierenden Eigenschaften gezählt werden.
Schließlich ist kaum zu übersehen, dass die Anhänger von IM diese als Vorwand benutzen, um unbewiesene oder widerlegte Verfahren in die konventionelle Medizin einzubringen.
Entgegen anderslautenden Versprechungen hat IM kein erkennbares Potential zur Verbesserung der Medizin. Sie stiftet vielmehr Verwirrung und bringt Gefahren mit sich.
Zum Weiterlesen:
- Das leere Versprechen vom „Besten aus beiden Welten“, spiegel+ am 15. Oktober 2024
- „Zur Sache Baden-Württemberg“: Man kann eben in der Tat nicht Arzt und Homöopath sein, GWUP-Blog am 7. Oktober 2022
- Ein „Bund“ zwischen Ärzten und Heilpraktikern? Das freut nur die Pseudomediziner, GWUP-Blog am 21. Juni 2015
- Wider die These vom „Besten beider Welten“: Das neue Münsteraner Memorandum zum Thema Integrative Medizin, GWUP-Blog am 23. November 2022
- Ayurvedic medicine in the management of hypertension: how to kill millions with quackery and bullshit, edzardernst am 15. Oktober 2024
17. Oktober 2024 um 16:24
Die Sentenz vom „Besten aus beiden Welten“ hat Jörg-Dietrich Hoppe, der vormalige Präsident der Bundesärztekammer, bereits Ende der 1990er Jahre geprägt – und ist offensiv damit hausieren gegangen (auch sein Nachfolger, der heutige Sekretär des Weltärztebundes, war Hoppes Position nicht unbedingt abgeneigt).
Dies war Ausdruck der recht offenkundigen Absicht, zu verhindern, dass das Konzept der Evidenzbasierten Medizin zum beherrschenden Paradigma moderner Medizin werden und die „Erfahrungsmedizin“ ins Hintertreffen geraten würde.
Mit David Sacketts Editorial im British Medical Journal „Was ist evidenzbasierte Medizin und was nicht“ im Jahre 1997 wird eben dieser Paradigmenwechsel heute datiert:
https://www.cochrane.de/sackett-artikel
Hoppes Argumentationsmuster zieht sich heute noch bei den Verteidigern einer „holistischern Erfahrungsmedizin“ durch wie ein roter Faden (und wird, rhetorisch nicht ungeschickt aber irreführend, mit dem Appell zu mehr „Pluralismus“ verbrämt(.
Hoppe flankierte seine Sentenz meist mit dem Hinweis, dass man „alternative“ Ansätze nicht abwerten dürfe, nur, weil die Wissenschaft „noch nicht so weit sei“, sie zu belegen.
Was nicht mehr ist als eine rhetorische Finte. Denn die Wissenschaft vermag sehr wohl zu erkennen, ob eine Intervention eine über Kontexteffekte hinausgehende Wirksamkeit zeigt. Was mit dem „Wie“ erstmal ja gar nichts zu tun hat.
Ray Hyman: „Do not try to explain something until you are sure there is something to be explained.”
Wir dürfen als Skeptiker und Kritiker nicht vergessen, dass die EBM ihren Durchbruch erst vor wenig mehr als 25 Jahren hatte, also noch sehr, sehr jung ist. Was bedeutet, dass die Generationen, die die EBM akzeptieren und verinnerlichen, derzeit erst in den beruflichen Startlöchern stehen.
Schwurbel in der Medizin als Aussterbephänomen? Vielleicht ja, schaut man sich die klaren Statements gegen Homöopathie der Medizin- und der Pharmaziestudierenden an, die sie in den letzten Jahren veröffentlicht haben.
17. Oktober 2024 um 20:30
„Das Beste aus beiden Welten“ ist auch die große Erzählung der theosophischen EsoterikerInnen, insbesondere von Rudolf Steiner.
Bei Steiner ist es die vermeintliche Synthese aus Materialismus und Spiritualismus oder Wahrnehmung und Imagination. Die „Drei“ bzw. der dritte Weg oder die Mitte bzw. die Harmonisierung sei stets die Anthroposophie selbst, der esoterische Einblick in das angebliche höhere Wissen.
„Das Beste aus beiden Welten“ ist die älteste Platte der New Age Esoterik.
17. Oktober 2024 um 23:12
@Informationsnetzwerk Homöopathie
Im Grundsatz verdient das volle Zustimmung. „Wenn man Fantasie in die Realität mischt, macht das die Fantasie nicht realer. Wenn man Kuhmist in den Kuchen rührt, macht das den Kuhmist nicht wohlschmeckender. Es macht den Kuchen schlechter“ (Mark Crislip).
Ein, zwei Randbemerkungen seien aber erlaubt. Die „EBM“ als solche ist dann doch schon ein wenig älter als 25 Jahre. Der Text von Sackett 1997 ist mehr eine Klarstellung und Bekräftigung als eine Innovation. Ein Editorial in Annals of Internal Medicine 1983 (Feinstein AR, Ann Int Med 1983;99:544-550) beginnt mit den Worten:
Auch ist der Begriff der wissenschaftlichen klinischen Medizin nicht völlig deckungsgleich mit dem der evidenzbasierten Medizin. Wir hatten das vor einiger Zeit mal in unserem Blog gestreift,
https://blog.psiram.com/2014/10/die-scientabilitaet-die-homoeopathie-und-die-wissenschaftsbasierte-medizin-2-was-solls/
21. Oktober 2024 um 10:55
@pelacani:
Der Sackett-Artikel wird ja nur als der „Wendepunkt“ bezeichnet, von dem an die EBM als beherrschendes Paradigma angesehen werden kann. Sie geht noch viel, viel weiter zurück als bis 1983, wie unser Sprecher Udo Endruscheit hier ausführt:
https://www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/11149336.html
Natürlich muss man EBM von evidenzbasierter Forschung unterscheiden. Im Sinne von Sackett ist die EBM die Grundlage für eine individuelle Therapieentscheidung. Ihre Prinzipien wirken sich aber auch auf die medizinische Forschung aus (zumindest sollte das so sein), wofür sich inzwischen einige Kriterien herausgebildet haben. Dort gibts aber auch Fehlentwicklungen, z.B. die Überfokussierung auf Medizinstatistik unter Außerachtlassung von Grundplausibilitäten:
https://www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/11150638.html
22. Oktober 2024 um 22:56
Och, man kann in dieser Ahnenreihe auch noch deutlich weiter zurück, wenn man will.
Der erste plazebokontrollierte Doppelblindversuch, von dem ich weiß, war 1835 (erwähnt hier), der erste Blindversuch in einem mehr oder weniger klinischen Setting war die Untersuchung der Mesmerschen Magnetisierungen durch die königliche Kommission (u. a. mit Franklin und Lavoisier) 1784, der erste placebokontrollierte Blindversuch überhaupt die Teufelsaustreibung bei Marthe Brossier 1599 (erwähnt hier), und erwogen wird die vergleichende Untersuchung schon in der Bibel, wenn auch mehr rhetorisch und ich habe den Vers vergessen.
;-)
23. Oktober 2024 um 10:24
@Pelcani:
Der erste plazebokontrollierte Doppelblindversuch, von dem ich weiß, war 1835
Ja, der „Nürnberger Kochsalzversuch“:
https://blog.gwup.net/2011/03/21/erster-homoopathie-blindtest-bei-youtube/
erwogen wird die vergleichende Untersuchung schon in der Bibel, wenn auch mehr rhetorisch und ich habe den Vers vergessen.
Möglicherweise:
https://www.bibleserver.com/de/verse/1.Thessalonicher5,21
23. Oktober 2024 um 12:35
@Bernd Harder
Möglicherweise
Nee, 1 Thess 5,21 hatte ich nicht gemeint. Es ging darum, wer zum richtigen Gott bete, und dann werde man ja sehen, wem’s besser gehe; oder so ähnlich. Ich bilde mir ein, das war im AT. Das hatte nicht so eine Jenseitsfixierung wie das NT.
23. Oktober 2024 um 19:29
1. Kön. 18, 20-40.
23. Oktober 2024 um 21:34
Bingo! Danke.