Interessantes Interview mit Jennifer Reich von der University of Colorado bei Zeit-Online.
Die Soziologin geht in ihrem Buch „Calling the Shots. Why parents reject vaccines“ (Warum Eltern Impfungen ablehnen) den Motiven von Impfverweigerern nach.
Ein Auszug:
Reich: Die Eltern [sind] oft nicht nur Impfungen gegenüber skeptisch. Sie misstrauen den Institutionen, die Medikamente oder Nahrung auf ihre Sicherheit kontrollieren. Sie haben Angst vor Umweltgiften, und lehnen gentechnisch veränderte Nahrungsmittel ab. Diese Eltern versuchen ein natürliches Leben zu leben.“
ZEIT ONLINE: Und was verstehen sie unter Natürlichkeit?
Das ist sehr schwammig definiert und verändert sich ständig. Was als natürlich und unnatürlich gilt, lässt sich nicht scharf voneinander trennen. Es gibt zum Beispiel Eltern, die kaufen nur Matratzen, die aus Naturstoffen bestehen, aber haben kein Problem damit, Auto zu fahren.
Das Baby jedoch ist für die meisten der Inbegriff eines perfekten und natürlichen Körpers. Und die Eltern haben Sorge, dass ein Eingriff wie eine Impfung diesen natürlichen Zustand verdirbt. Viele glauben auch, dass natürliche Immunität, die dadurch zu Stande kommt, dass ein Kind eine Krankheit durchlitten hat, besser sei als eine künstliche durch Impfungen. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Was viele Eltern vergessen: Natürliche Immunität heißt auch, dass einige Kinder sterben oder dauerhaft Schäden davontragen.“
In Ihrem Buch schreiben Sie, die Impfmüdigkeit der Eltern hänge untrennbar mit der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft zusammen. Wieso?
Die Gesellschaft vermittelt den Menschen, dass jeder für seine eigene Gesundheit verantwortlich ist: Sport machen, Kalorien zählen, gesund essen. Und sie tut so, als wäre es die rein individuelle Verantwortung der Eltern, Kinder groß zu ziehen.
Viele Eltern nehmen sich deshalb als Experten für die Gesundheit ihrer Kinder wahr. Sie glauben, jedes Kind hat ein einzigartiges Immunsystem und braucht unterschiedliche Impfungen. Das fühlt sich wahr an, auch wenn die Wissenschaft das so nicht stützt. Ihnen ist ein starrer Impfplan nicht individuell genug.
Ein Beispiel: Viele Eltern wollen nur ihre Söhne gegen Mumps impfen lassen, weil Mumps Jungen unfruchtbar machen kann, und nur ihre Töchter gegen Röteln, weil Röteln für Schwangere gefährlich sein können. Dadurch entsteht eine Riesenkluft zwischen Eltern und Forschern.
Die Eltern denken, ihr Kind ist einzigartig, sie wollen Informationen, die ganz spezifisch auf ihr eigenes Kind zugeschnitten sind. Die Forscher hingegen denken auf der Bevölkerungsebene. Nur so funktioniert Wissenschaft.“
Zum Weiterlesen:
- Impfungen: „Natürliche Immunität heißt auch, dass einige Kinder sterben“, Zeit-Wissen am 14. April 2017
- Impfgegner-Psychologie, GWUP-Blog am 9. Dezember 2014
- Was tun Impfgegner bei Masernausbrüchen? Sie lesen keine Zeitung mehr, GWUP-Blog am 26. Februar 2017
- Impfung und Herdenschutz: Nachricht einer besorgten Mutter, Die Erde ist keine Scheibe am 21. Februar 2017
- Woher die Angst vor dem Impfen wirklich kommt, Welt-Online am 29. Februar 2016
- Soziale Ansteckung: Wie sich Meinungen fortpflanzen, spektrum am 11. April 2017
- Akupunktur auf Augenhöhe mit Impfungen? skeptiker.ch am 14. April 2017
- STIKO-Vorsitzender Mertens: Impfpflicht kontraproduktiv, Gesundheits-Check am 13. April 2017
14. April 2017 um 20:04
Solches Denken führt geradewegs vorwissenschaftliche Zeiten wieder herauf. Die moderne Wissenschaft besteht im Erkennen von Gleichmäßigkeiten, von Generalisierbarem, von Nicht-Individuellem (was der Berücksichtigung individueller Merkmale und Befindlichkeiten bei medizinischen Behandlungen keineswegs entgegensteht).
Der Schritt in die Wissenschaft war auch der Übergang von der reinen Empirie (dem, nach Kant, „bloßen Herumtappen“ durch das Anhäufen empirischer Daten) hin zur Deduktion, der logischen Ableitung grundsätzlicher Erkenntnisse aus allgemeinen Prinzipien. Wobei die Erkenntnis aus gegenseitiger Bestätigung der Ergebnisse von Deduktion und Induktion folgt.
Die beschriebene Haltung amerikanischer Eltern (und sicher nicht nur solcher) erinnert mich an Samuel Hahnemann, der die „Individualität“ seiner Methode so hoch hielt (was seine Anhänger heute noch tun).
Er ging dabei so weit, dass er das Vorhandensein gleichförmiger, wiederkehrender Krankheiten geradezu bestritt, sich gar weigerte, Erkrankungen überhaupt einen Namen zu geben. Für ihn zählte nur der Inbegriff der individuellen Symptome.
Genau das haben wir hier wieder vor uns: Die Illusion der „individuellen Ganzheitlichkeit“, der z.B. bei einer Impfentscheidung die gesamte Epidemiologie der letzten 100 Jahre mal eben so untergeordnet wird.
Ich frage mich immer nur: Ist die Wissenschaftsfeindlichkeit Ursache für diesen Natürlichkeits- und Ganzheitlichkeitswahn oder ist es umgekehrt?
14. April 2017 um 20:38
Oder ist es die Dialektik der Halbaufklärung? Wer gut gebildet ist, viel liest, liest eben auch viel Widersprüchliches. Zu allem gibt es unterschiedliche Expertenstimmen, hinter allem kommen irgendwelche Interessen zum Vorschein. Die Folge: Man glaubt den „Autoritäten“ nicht mehr alles, an sich ja etwas Positives. Bei der Suche nach Orientierung ist dann für manche Leute die „Natur“ ein scheinbar verlässlicher Leuchtturm, manche finden „tiefere Wahrheiten“ …
Zum Interview: Jennifer Reichs Hinweis auf den Preis der „natürlichen Immunität“ ist ein wichtiger Punkt. Das ist wie bei der Homöopathie: Wenn man nur die gut verlaufenden Fälle anschaut, wirkt alles gut. Es fehlt halt was am Gesamtbild.
14. April 2017 um 21:22
Kommentar von Udo Endruscheit
„Ich frage mich immer nur: Ist die Wissenschaftsfeindlichkeit Ursache für diesen Natürlichkeits- und Ganzheitlichkeitswahn oder ist es umgekehrt?“
Sehr spannende Frage, gerade in Bezug auf das Thema Impfen. Denn eigentlich ist im größeren Rahmen gesehen, die Geschichte des Impfens eine wirkliche Erfolgsgeschichte (z.B. Pocken ausgerottet, Kinderlähmung fast ausgerottet).
Die Impfverweigerei kann ja eigentlich nicht aus Enttäuschung über das Versagen von Impfen entstanden sein – ich meine, es gibt keinen Grund bezüglich der Wissenschaft des Impfens feindliche Gefühle zu empfinden. Vielleicht ist das Impfgegnertum ein Kollateralschaden einer hilflosen Wissenschaftsungläubigkeit: Die Wissenschaft schafft es nicht, das Klima zu retten, sie schafft es nicht, den Hunger in der Welt zu beenden, sie schafft es nicht, Arten vor dem Aussterben zu retten, sie schafft es nicht, die Müllberge zu reduzieren usw..
Menschen sehen nicht, dass das alles nicht Schuld der Wissenschaft ist. Trotz Wissenschaft ist die Welt am kaputt gehen und der Einzelne (Individualisierung) muss eigene Wege finden, zumindest sich selbst und seine Kinder zu retten.
15. April 2017 um 15:52
@Lemmie Das ist auch nicht die Aufgabe der Wissenschaft. Die kann Informationen zur Verfügung stellen, die von anderen Stellen sinnvoll eingesetzt werden oder auch nicht.
Die Zusammenhänge sind ja nu mal sehr komplex, es gibt widerstreitende Interessen und Einschätzungen, was richtig und sinnvoll sei.
Wer soll denn bitte „Wissenschaftsgläubig“ sein? Mit diesem Begriff wird suggeriert, dass Wissenschaft auch nur ein Form von anderer Gläubigkeit sei………..
16. April 2017 um 17:31
Zu Lemmie:
„Die Wissenschaft schafft es nicht das Klima zu retten, den Hunger auf der Welt zu beenden…“
Ich denke, die Wissenschaft schafft es schon.Das Problem sind die Menschen,die die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht umsetzen bzw. für ihre Zwecke und ihre Interessen gebrauchen.
Die wissenschaftlichen Erfindungen/Entdeckungen sind an sich system-und wertneutral,siehe die Kernspaltung.
Erst der Mensch macht aus dieser grandiosen Entdeckung für sich mit der Atombombe ein furchtbares MachtInstrument zur Durchsetzung seiner Interessen.Die Wissenschaft analysiert und erkennt die Klimaverschmutzer auf dieser Erde.Diese denken jedoch zuerst an ihre eigenen und politischen Interessen oder an ihren Profit.
Die Wissenschaft weist auf die Probleme der Bevölkerungsexplosion hin: Hungersnöte,Kriege,soziale Spannungen und Flüchtlingsströme…Die Wissenschaft hat im Mittelalter millionen Menschen vor dem sicheren Seuchentod (Pocken,Masern,Pest)gerettet,was die Impfgegner heute leicht vergessen.
Die,die sich heute also als solche Impfgegner aufspielen,wären wahrscheinlich nie gezeugt wurden wenn die Wissenschaft damals ihre Erzeuger nicht vor diesen Krankheiten gerettet hätte…
Kurz: Man hätte sogesehen heute ein Problem weniger.
20. April 2017 um 13:33
„Why it’s a bad idea to space out your child’s vaccination shots“
https://www.washingtonpost.com/news/to-your-health/wp/2017/04/17/why-its-a-bad-idea-to-space-out-your-childs-vaccination-shots/?utm_term=.4eb6a51d08cb