Fortsetzung von „Die Sache mit der Brücke“
Die Situation: Romantisch, so eine Seilbahnfahrt in Rio de Janeiro vom Zuckerhut hinunter ins Tal. Plötzlich stoppt die Gondel. Ein 2,20 Meter großer Unhold schlägt sein blitzendes Stahlgebiss in das Seilbahnkabel, um die Kabine zum Absturz zu bringen – und hernach Bond und seiner attraktiven Begleiterin an den Hals zu gehen:
Das sollte unser Agent tun: Aufs Dach der Gondel zu klettern, eine Kette über die Seilbahn-Trosse zu hängen und mit Dr. Holly Goodhead im Arm eilends davon zu rutschen, ist eine Möglichkeit. Die andere: dem Lulatsch die Nummer eines guten Kieferchirurgen zurufen – und unaufgeregt verfolgen, wie er frustriert seinen Biss verliert.
Wieso? Das Feierabendbier kriegt man zur Not auch mit den Zähnen auf – eine Seilbahn zu knacken, wie in „Moonraker – Streng geheim“, ist eine ganz andere Liga. Stahlgebiss hin oder her.
Zunächst einmal: Beißen ist im Vergleich zu Schneiden wenig effektiv, weil die Bewegung quer zur Schnittlinie fehlt. Außerdem sind Zähne alles andere als optimal zum Durchtrennen von Material. Denn die Oberfläche ist recht groß. Eine gute Klinge dagegen ist sehr dünn und wird nach oben dicker, damit sie nicht nachgibt.
Aporopos nachgeben: Mag der Beißer auch gehärtete Stahlzähne haben, so werden diese immer noch von seinem Kieferknochen gestützt. Bevor das Stahlseil nachgibt, bricht der Kiefer – egal wie stark die Beißmuskeln sind. Der Kiefer muss die Kraft aushalten, die „Jaws“ auf das Stahlseil aufbringt (actio = reactio).
Entscheidend aber ist mitnichten das Zahnmaterial, sondern die sogenannte Beißkraft:
Sie gibt an, wie hoch die Kraft des Kiefers bei einem Biss in Newton pro Quadratzentimeter (N/cm²) ist. Es handelt sich also nicht um die Angabe einer Kraft, sondern um einen Druck.“
Und hier dürfte auch der größte Blend-a-med-Fan beim kraftvoll Zubeißen gerade mal auf 800 Newton pro Quadratzentimeter kommen (das sind rund 80 kg/cm²).
Nun sind Seilbahnkabel extrem widerstandsfähige Gebilde.
Stahl hat eine 0,2-Prozent-Fließgrenze der Größenordnung 360 N/mm². Darunterversteht man …
… diejenige aufzubringende grenzwertige Kraft, ab der ein Stoff vom „elastischen Gedehntwerden“ zum „Fließen“ (das heisst von einer nichtbleibenden zu einer bleibenden Verformung) übergeht. […]
Bis zu einer bestimmten Belastung – eben der Fließgrenze – bleibt ein Material elastisch und nimmt wieder die ursprüngliche Form ein, wenn man die Belastung wieder von ihm nimmt. Ist die belastende Spannung auf das Material jedoch größer, so beginnt es, sich bleibend zu verformen. Schließlich bricht es oder reißt ab.“
Die gemessene Verformung wird als Index angegeben, der übliche Wert ist 0,2 Prozent.
Bei Druck-/Zugkräften von 360 N/mm² reißt Stahl noch nicht ab, das Material beginnt nur zu fließen, sich also irreversibel zu verformen. Bei einem Rohr mit 10 mm Durchmesser (Querschnittsfläche ~78 mm²) entspricht das einer Kraft von 360 mal 78 = 28080 Newton oder zirka 2,8 Tonnen.
Das ist aber nur ein sehr grober Vergleich, um die Größenordnung zu verdeutlichen, denn ein Seilbahnkabel kann man natürlich nicht mit einem Stahlrohr gleichsetzen, und außerdem gibt es viele unterschiedliche Stahlsorten, und die Werte unterscheiden sich stark und sind eher höher als in unserem konservativen Rechenbeispiel.
Festhalten können wir aber: In der Realität wäre der Beißer nicht einmal in der Lage, ein Zehn-Millimeter-Stahlrohr durchzubeißen.
Die Mythbusters haben sich auch an dieser Fragestellung versucht und kamen kurz zusammengefasst zu folgendem Ergebnis:
Adam and Jamie created two versions of the teeth shown in the movies.
One was a set of steel teeth set in a normal bone jaw, and the other set was a jaw and teeth made out of hardened steel. However, neither jaw was able to cut through the one inch cable they used with normal human bite strength. Not even 10 tons worth of force was able to force the teeth through the cable, with the hydraulic press applying the pressure actually bending itself out of shape.
In order to replicate the results seen in the film, Jamie had to use a hydraulic cutter to sever the cable.“
Auch kein lebendes Tier könnte das Seilbahnkabel in „Moonraker“ durchtrennen. Das Lebewesen mit der größten Beißkraft ist der weiße Hai (1,8 Tonnen oder 17.640 (N/cm²).
Von den ausgestorbenen Urzeitwesen käme wahrscheinlich nicht einmal der Tyrannosaurus rex in Frage, auch wenn es zu dessen Beiß- oder Bisskraft neue Erkenntnisse gibt.
Bislang waren die Experten von etwa drei Tonnen (oder 30.380 N/cm²) ausgegangen.
Britische Forscher haben jetzt durch Vermessungen von Tyrannosaurus-Schädeln und biomechanische Computersimulationen ermittelt:
Ein Backenzahn des Tyrannosaurus allein erzeugte bereits Kräfte von 35.000 bis 57.000 Newton. Das entspricht etwa 3.500 bis 5.700 Kilogramm Gewicht, die auf die kleine Fläche der Zahnspitze konzentriert werden.“
Anders gesagt:
Mit mehr als fünf Tonnen Druck auf einem Zahn hatte Tyrannosaurus Rex den kräftigsten Biss aller Landtiere überhaupt. Damit übertrifft der Riesensaurier heutige Alligatoren um ein Zehnfaches.“
Allerdings sind solche Berechnungen von Urzeit-Rekorden umstritten, und es werden regelmäßig neue Kandidaten dafür präsentiert, etwa das …
… Urkrokodil Deinusuchus riograndensis mit einer Beißkraft von bis zu 102 Kilonewton.
Erst kürzlich hatten britische Forscher durch Computersimulationen der Muskeln die entsprechende Kraft der Kiefer von Tyrannosaurus rex geschätzt. Obwohl diese mit bis zu 57 Kilonewton deutlich höher war als bisher vermutet, belegt der berühmte Schrecken der Urzeit damit nach dem Urkrokodil nur einen abgeschlagenen zweiten Platz.“
Oder der …
… Riesenhai Carcharodon Megalodon mit einer Beißkraft von 10,8 bis 18,2 Tonnen.“
Hinzu kommt, dass wir es bei solchen Berichten mit völlig inkonsistenten Einheiten der „Beißkraft“ zu tun haben.
Häufig taucht dieselbe Zahl auf – aber mal mit der Einheit Newton [N = Kraft] versehen, dann wieder mit N/cm² [= Druck, 1 N/cm² = 10.000 Pa = 0.1 bar]. Das ist aber nicht das Gleiche, zumal davon auszugehen ist, dass nicht bei jedem der aufgeführten Tiere die Gebissfläche genau 1 cm² ist.
Und damit nicht genug: Kräfte kann man – auch wenn das streng genommen nicht richtig ist – zur Veranschaulichung auch in Kilogramm (kg) angeben. Die Gewichtskraft von 1 kg beträgt auf der Erde 9,8 Newton (N), zum leichteren Rechnen kann man auch 10 Newton annehmen.
Betrachten wir die „Beißkraft“ vereinfacht als Leistung der Muskulatur, dann wird durch diese Kraft auf etwas, das sich zwischen den Zähnen befindet, ein Druck ausgeübt (Kraft geteilt durch relevante Fläche).
Dieser Druck ist aber gar nicht so leicht zu bestimmen, da er auch davon abhängt, zwischen welchen Zähnen und in welchem Winkel der, sagen wir mal: Nahrungsbrocken, sich befindet. Klar, weil Backenzähne die größere Fläche haben, kann man dort kräftiger zubeißen als mit den vorderen Schneidezähnen.
Die Kräftebilanz beim Beißen ist mithin sehr komplex und daher „Beißkraft“-Simulationen außerordentlich schwierig.
Bedeutsam für unser Thema ist eigentlich nur, dass der Biss in ein Stahlseil ziemlich schmerzhaft sein dürfte – für den Beißer.
Und auch wenn „Jaws“ für viele Fans der unumstritten beste Henchman der Bond-Reihe ist – zum „stärksten Beißer aller Zeiten“ (Handelsblatt) wird er es nie bringen:
Nichtsdestotrotz: Der Beißer denkt gerne an die „Moonraker“-Dreharbeiten zurück.
Die Bond-Macher waren damals schon sehr erfinderisch“,
erzählt Richard Kiel:
Das Kabel war aus Lakritz und sah richtig echt aus. Ich musste die Szene zehnmal drehen – lecker!“
(Fachliche Beratung: Dr. Philippe Leick)
Teil 7: Cold Reading mit James Bond
Zum Weiterlesen:
- Beißkraft-Übersicht
- Die Tiere mit der stärksten Beißkraft, rp-online
- Was macht eigentlich … Richard Kiel? Stern am 26. November 2002
- James-Bond-Spezial Teil 1: Die Sache mit den Laserwaffen, GWUP-Blog am 1. November 2012
- James-Bond-Spezial 2: Die Sache mit dem Gold, GWUP-Blog am 2. November 2012
- James-Bond-Spezial 3: Die Sache mit dem Flugzeugfenster, GWUP-Blog am 3. November 2012
- James-Bond-Spezial 4: Die Sache mit dem Piranhas, GWUP-Blog am 4. November 2012
- James-Bond-Spezial 5: Die Sache mit der Brücke, GWUP-Blog am 4. November 2012