So so, also hat sich nunmehr
… die Natur […] gerächt und Knut die erheblichen Qualen der Gefangenschaft erspart. Man sollte sich eher für Knut freuen, anstatt der quälenden Gefangenschaft nachzutrauern“,
kommentiert der Tierrechtler Frank Albrecht das unerwartete Ableben der Ex-Knutschkugel „Knut“.
Zwar ist der Justin Bieber der Tierwelt wohl an einem Hirnschaden gestorben – aber macht ja nix. Schließlich ist allenthalben offenkundig, dass Mutter Natur schwer sauer ist.
Und zwar auf uns.
„Es ist seltsam“, wundert sich etwa der European-Autor Jost Kaiser, dass man …
… bei vielen Kommentatoren der Japan-Krise meint herauszulesen, dass die Katastrophe eine Rache der Natur sei. Der Mensch als Hautkrankheit der Erde scheint eine beinahe mehrheitsfähige Auffassung zu sein.“
Oder anders formuliert:
Ein Hund ist für Milliarden Bewohner die ganze Welt: Läuse, Flöhe und Zecken, Bakterien und Viren tummeln sich auf und in ihm. Erst wenn eine Art sich übermäßig vermehrt, das ausbalancierte Miteinander durch ungezügelten Nährstoffverbrauch stört und mit ihren Ausscheidungen den Lebensraum Hund vergiftet, versucht der, die Plage loszuwerden. Sein Immunsystem tötet Zellen, er hungert sie biochemisch aus und blockiert ihre Fortpflanzung. Meßbares Zeichen des Kampfes ist die gestiegene Körpertemperatur.
Auch die Erde – gleichermaßen besiedelt von allerlei Getier – fiebert, ein Wärmerekordjahr folgt dem anderen. Der Grund ist die Aktivität von sechs Milliarden Menschen. Auf die hat es nun anscheinend ein weltumspannendes Immunsystem abgesehen.“
Klar, dass uns dann sogleich auch Herbert Grönemeyer mit genuschelter Schwachlyrik bedient a la
Die Natur nimmt das Heft in die Hand. Schlägt beinhart zurück. Schickt die Geldgier in Katastrophen. Zwingt uns zu unserem Glück.“
Ach, tut sie das?
Das Ganze klingt eher nach der alten Gaia-Hypothese des Geochemikers James Lovelock, auf die explizit ein Periodikum mit dem programmatischen Namen Das Blättchen abhebt:
Es geht also nicht nur um die Atomindustrie, die hinten, weit, in Japan gerade explodiert, sondern um die Folgen unseres Tuns insgesamt. Nach der Gaia-Hypothese der Naturwissenschaft stellt die gesamte Biosphäre der Welt einen lebendigen Organismus dar, der sich dagegen wehrt, dass das Gleichgewicht gestört wird – das aber tut der „moderne“ Mensch gerade.“
Nun ja, „der Naturwissenschaft“ gilt die Gaia-Hypothese bestenfalls als „academic mysticism“, lesen wir hier:
Biological science moved beyond this by seeing nature as a self-regulating system – neither a messenger for human beings, nor animated with a soul-like substance. Gaia theory shows most dramatically how the subjective turn is leading academics into mysticism.
If scientists could keep their feet on the ground, then they’d stand a much better chance of unraveling the complex interactions of that most complex system, the climate. The more they use Earth as a counsellor for our crises, though, the more its workings will remain obscure.“
In dem Sammelband „Mein paranormales Fahrrad“ befasst sich auch der Skeptical Inquirer-Autor Phil Shannon mit dem Thema. Einige Passagen aus seinem Aufsatz „Gaia ohne Mystik“:
Menschen sind zielorientiert und können die Umwelt bewusst verändern. Mikroben, Algen, Bäume und Steine jedoch nicht. Lovelocks etwas lässiger Gebrauch des Sprachbildes Gaia verwischt diesen Unterschied zuweilen […]
Der Anspruch von Anhängern der New-Age-Bewegung, die Gaia-Hypothese falle genuin in ihren Bereich, ist nicht gerechtfertigt. Genau wie unser Körper aus Milliarden lebender, aber nicht bewusster Zellen besteht, die dank der Evolution des Menschen auf Umweltfaktoren von selbst so reagieren, dass es dem Wohl des Ganzen dient, braucht die Erde kein übernatürliches Wesen oder Ideologie, um das Leben zu steuern […]
Bemerkenswert freilich sind die Parallelen zwischen denen, die an einen übernatürlichen Erdgeist glauben, und jenen, die Paranormales für real halten.
Beide suchen häufig nach einer wissenschaftlichen Begründung für ihre Überzeugungen (ob nun durch eine Pseudowissenschaft oder durch eine Verzerrung der Naturwissenschaft wie im Gaia-Fall).Eine Ähnlichkeit besteht auch im Umgang mit sprachlichen Bildern. Für einige bedeutet Gaia eine Erdgottheit.
Ähnliches passiert oft mit Heisenbergs Unschärfeprinzip, dem Kern der Quantenphysik. Es besagt, man könne einen subatomaren Kuchen nicht gleichzeitig behalten (den Ort eines Elektrons oder Atoms genau bestimmen) und essen (seine Bewegung messen). Und deshalb sei seine Wirklichkeit (die eines Dinges mit Ort und Bewegung) gewissermaßen abhängig vom Beobachter.
Die Anhänger der Parapsychologie verstehen das oft so, als ob alle Wirklichkeit, nicht nur die der Atomphysik, letztendlich subjektiv sei und alle Wahrheit relativ.“
Ist sie aber nicht.
Kurz gesagt:
- Gaia als Hypothese ist schlecht definiert und nicht falsifizierbar.
- Gaia als Metapher mag anregend sein, aber unüberprüfbar und irreführend.
Richard Dawkins hat es so ausgedrückt:
Die Gaia-Theorie ist neu und interessant. Das Problem ist nur: Das Neue ist nicht interessant. Und das Interessante ist nicht neu.“
Zum Weiterlesen:
- The So-Called Gaia-Hypothesis, redorbit.com am 11. Mai 2005
23. März 2011 um 08:34
„Menschen sind zielorientiert und können die Umwelt bewusst verändern. Mikroben, Algen, Bäume und Steine jedoch nicht.“
Naja …
Möglicherweise ist einigen Individuen der Spezies Mensch durchaus bewusst, dass an der Umwelt vorgenommene Veränderungen auch langfristige Konsequenzen haben. Trotzdem verhält sich die gesamte Population, als gäbe es kein Morgen. Würde die ganze Spezies bewusst handeln, hätten wir schon deutlich fortgeschrittenere Klimaprotokolle, nachhaltigere Wirtschafts- und Energiesysteme und weniger katastrophale ökologische wie humanistische Zustände in der dritten Welt.
23. März 2011 um 09:27
Nein, das ist Unfug. Nicht die Natur hat sich gerächt, sondern Knut wurde heimtückisch ermordet, wahrscheinlich mit Mikrowellenbestrahlung: http://t.co/TRxwX5C
;-)
23. März 2011 um 11:41
Ich mag Menschen, die Tiere lieben und alles für sie tun. Auch ich habe ein Haustier. Wenn ich aber – wie gestern im Fernsehen – eine ca. 50-jährige Zoobesucherin sehe, die wegen Knut einen Heulanfall hatte (vielleicht war es sogar ein Nervenzusammenbruch), dann kann ich das irgendwie nicht verstehen. Sie kannte Knut nur aufgrund ihres monatlichen Zoobesuchs und hatte – wie sie schilderte – ansonsten keine weitere Bindung zu Knut! Den Heulanfall (der nicht für die Kamera gestellt war) finde ich etwas übertrieben und erinnert mich an Fans von Schlagerstars, die in Ohnmacht fallen, wenn deren Idol vor ihnen auftritt. Auch bei extremen Fußballfans erkenne ich oft übertriebene Sympathie ihrer Mannschaft gegenüber. Oft habe ich den Eindruck, dass es sich um Menschen handelt, die selber wenig auf die Beine stellen können und sich lieber anderen Dingen in einer passiven Rolle hingeben und in etwas hineinsteigern.
Wenn jemand sein eigenes Tier wie ein Familienmitglied ehrt und liebt, habe ich hingegen volles Verständnis und finde das völlig in Ordnung. Aber sich einem fremden Eisbären so übertrieben hingezogen zu fühlen, ist für mich nicht so ganz nachvollziehbar.
Und noch weniger nachvollziehbar ist für mich, dass sogar seriöse Sendungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender dieses Schauspiel so unterstützen und sogar anschieben. In Japan und anderswo passieren unfassbare Ereignisse der Weltgeschichte und in Berlin erleiden Menschen wegen Knut einen Heulanfall.
27. März 2011 um 10:52
Wenn ich mich recht erinnere, so hat sich die leibliche Mutter des Eisbären Knut von Anfnag an geweigert, Zeit und Energie in seine Aufzucht zu investieren. Ich habe da keine Beweise – nur meine eigene Hypothese – Aber ich könnte mir vorstellen, dass dieses insinktive verhalten der Mutter ein klares Indiz war, dass Knut „es“ von vornherein „nicht lange schaffen konnte“ und dies für die Mutter anhand irgendwelcher Eigenschaften des Jungen offensichlch war. Einzig menschliches Eingreifen hat dafür gesorgt, dass er überhaupt so lange gelebt hat. Da stellt sich mir die Frage, ob ein früher Tod von Knut nicht tatsächlich hätte erwartet werden müssen. Nicht, weil sich die Natur für irgendetwas rächt oder weil die Gefangenschaft so schlimm war – vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall und Knut hätte in der freien Natur keine Chance gehabt (sicherlich kann man über Zoos geteilter Meinung sein), sondern weil die Natur einfach ihren natürlichen Lauf nimmt? Nur so ’ne Idee.
6. April 2011 um 23:28
@Marc: Da trauen Sie einer Eisbärdame aber mächtig viel zu. Nämlich eine Vier-Jahres-Prognose – vielleicht sollte der rbb die Eisbärin Tosca für die Wettervorhersage akquirieren.