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Warum gibt es den Placebo-Effekt?

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Die Kraft der Placebo-Effekte löst immer wieder Erstaunen aus – so auch in der aktuellen Veröffentlichung „Placebo in der Medizin“, herausgegeben von der Bundesärztekammer (BÄK).

Doch stellen wir damit eigentlich die richtige Frage? Nein, meint der Psychologe Nicholas Humphrey, emeritierter Professor an der London School of Economics.

Denn aus evolutionärer Sicht sind enorme Selbstheilungskräfte geradezu selbstverständlich – schließlich gibt es für Tiere in der Natur keine Ärzte oder Krankenhäuser: Wer sich nicht selbst heilt, geht unter. Auch unsere Alltagserfahrung zeigt, dass die meisten Verletzungen und Krankheiten von selbst wieder verschwinden.

Die Frage ist also vielmehr: Warum heilt sich der Körper nicht stets sofort, wieso ist die Erwartungshaltung so wichtig?

Aus evolutionärer Sicht hat die sofortige Heilung nicht unbedingt höchste Priorität. Sicherlich ist es besser, gesund als krank zu sein. Doch andererseits kostet etwa die Bekämpfung einer Grippe den Körper viel Energie – jeder, der einmal hohes Fieber hatte, weiß das.

Daher muss unser Organismus stets die Vorteile einer schnellen Heilung gegen den Aufwand des Heilungsprozesses abwägen.

Was nun besser ist, kommt auf die äußeren Umstände an. Für unsere in freier Natur lebenden Vorfahren könnte beispielsweise gegolten haben: Wenn genügend Nahrung zur Verfügung steht und keine Gefahr droht, dann kann der Körper es sich leisten, eine Krankheit gründlich zu bekämpfen und dafür viel Energie aufzuwenden.

Anders stellt sich die Situation dar, wenn es kalter Winter ist, Nahrungsmangel herrscht und stets mit Angriffen von wilden Tieren gerechnet werden muss. Dann ist es wohl sinnvoller, nicht alle Energie in die Kuration von Krankheitszuständen zu stecken, sondern diese nur einigermaßen unter Kontrolle zu halten.

Anders ausgedrückt: Ob der Körper seine Ressourcen in Heilungsprozesse investiert, hängt vor allem davon ab, welche Lebenssituation für die nähere Zukunft zu erwarten ist. Im Laufe der Evolution könnte es daher vorteilhaft gewesen sein, dass die Selbstheilungskräfte des Menschen von der Aussicht und der Hoffnung auf eine gute Perspektive beeinflusst werden – der erste Schritt zum Placebo-Effekt.

Heutzutage leben wir nicht mehr in der Gefahr, während einer Erkrankung von wilden Tieren angegriffen zu werden. In den allermeisten Fällen wäre also die vollständige Heilung die vorteilhaftere Option. Warum sind dennoch nicht alle Selbstheilungskräfte aktiv?

Das hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie der Gesamtorganismus aus Körper und Psyche die Zukunftsaussichten beurteilt. Auch hier zieht Humphrey wieder eine Verbindung zu evolutionären Strukturen.

Eine detaillierte, rationale Analyse des Kommenden kann nur durch höhere kognitive Prozesse geleistet werden. Diese aber sind aufwändig, weil unser Gehirn für derart komplexe Aufgaben wiederum viel Energie benötigt. Außerdem bleiben möglicherweise keine geistigen Kapazitäten für andere wichtige Aufgaben übrig.

Für die Beurteilung der Zukunftsaussichten – und damit für die Entscheidung, wie viel Energie in die Selbstheilung gesteckt wird – ist es ontogenetisch mithin Erfolg versprechender, nur einige wenige simple Punkte mit unmittelbarem Bezug zur Daseinssituation ins Kalkül zu ziehen.

Etwa: Ist es kalt? Gibt es genug zu essen? Sind wir allein? Schon aus dieser kurzen Auflistung wird deutlich, dass es bei dem Checkup der Chancen primär um die beiden Variablen „Hoffnung“ versus „Verzweiflung“ geht.

Und eben daraus resultiere nun das Phänomen, dass alles, was Hoffnung erzeugt, die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert und unterstützt.

Diese Mechanismen haben sich Humphrey zufolge herausgebildet, weil sie für unsere Vorfahren gute Überlebensperspektiven boten. Der Placebo-Effekt sei also indirekt eine Folge evolutionär sinnvoller Verhaltensmuster und laufe auch im modernen Menschen noch auf niedriger kognitiver Ebene, sozusagen intuitiv, ab.

Zum Weiterlesen:

  • Aufmarsch der Globulisierungsgegner, DocCheck-News am 23. Juli 2010
  • Der Sinn des Placebo-Effekts, Skeptiker 2/2001
  • Die Macht der bösen Gedanken, Deutschlandfunk am 14. März 2010
  • Placebos – Boten aus dem Nichts, Süddeutsche Zeitung am 3. August 2010
  • Placeboeffekt: Kein Hirngespinst, FAZ am 9. August 2010

6 Kommentare

  1. Ich finde diesen Erklärungsversuch des Placebo-Effektes nachvollziehbar.

    Vermutlich kann Medizin bzw. Therapie dem Körper nur helfen auf seinem
    Weg zur Genesung, die Gesundheit jedoch nicht per Dosis bzw. Therapieeinheit verabreicht werden.

    Der Placebo-Effekt ist ein deutlicher Hinweis in der Richtung daß ein Mensch seinen Körper doch recht nachhaltig beeinflussen kann durch seine innere Einstellung.

    Etwa : „Also diese Tabletten die ich da jetzt nehmen soll,
    haben zig Menschen wer weiß wie lange dran rumgeforscht an dem Wirkstoff und allem. Milliarden von Forschungsgeldern fliessen da. Da MUSS ja was dran sein … “

    Auch wenn gar nichts drin ist ausser Traubenzucker.

  2. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen.
    Evolutionär gesehen ist nicht nur das Überleben des Individuums maßgebend, sondern auch die Überlebenschancen seiner direkten Verwandten.
    Ein kranker in einer Gruppe stellt, wenn die Gruppe am Exitenzminimum lebt, eine potentielle Bedrohung dar.
    Mein Hypothese ist nun, dass sich ein Mechanismus entwickelt hat, der kranken Individuen erlaubt die Selbstheilung entsprechend der Reaktion seiner Sippe zu „dosieren“.
    Wird sich stark um einen Menschen bemüht, ist er vielleicht Wissensträger oder liegt seinen Mitmenschen sehr am Herzen, so werden die Selbstheilungskräfte durch dieses Bemühen angeregt.
    Im Gegenteiligen Fall, die Sippe nimmt das Sterben des Kranken „in Kauf“ so ist die Wahrscheinlichkeit des Todes erhöht, die Selbstheilungskräfte werden nicht eingesetzt.

    Deshalb: Kümmert Euch um die Kranken! Ob das der Besuch des Enkels ist, oder der Homöopath der sich Zeit für seine Patienten nimmt, spielt dabei glaube ich keine Rolle.

  3. Also hier handelt es sich ja wohl nur um eine plausible Erklärung eines beobachteten Phänomens. Diese Hypothese ist weder beweisbar noch widerlegbar. Nach meiner Auffassung ist dieser Artikel also unwissenschaftlich und daher unnötig. Vor allem der Link zur Macht der bösen Gedanken regt mich ziemlich auf, da auf dieser Seite mit unbewiesenen Einzelfalldarstellungen herumgeschleudert wird und niemals darauf hingewiesen wird, dass es bisher nicht gelungen in Studien einen direkten negativen Effekt auf die Gesundheit eines Menschen nachzuweisen, außer man nimmt das Konstrukt Stress dazu. Das bedeutet lang dauernder Stress führt zu einer Dämpfung des Immunsystems, was wieder zur Auslösung von Krankheiten führt. Aber die Ursache liegt hier im Stress der durch die Gedanken ausgelöst wird und nicht bei den Aussagen direkt. Wenn man schon Zeitungsartikel zitiert dann seriöse. z.B.:http://www.nzz.ch/nachrichten/wissenschaft/befund_tod_durch_einbildung_1.2987150.html

  4. @Michael Mikas:

    << Also hier handelt es sich ja wohl nur um eine plausible Erklärung eines beobachteten Phänomens.<<

    Und? Haben wir irgendwo behauptet, dass es *mehr* ist?

  5. @Michael Mikas:

    << Also hier handelt es sich ja wohl nur um eine plausible Erklärung eines beobachteten Phänomens.<<

    Nette Definition des Begriffs "Wissenschaft" in einfachen Worten!

  6. In einem interessanten Artikel weist eine österreichische Kulturwissenschaftlerin darauf hin, dass Placebos keine Entdeckung der jüngeren Zeit sind.

    https://www.gwup.org/infos/nachrichten/2086-placebos-mal-anders

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