Schöner Text in den DocCheck-Blogs:
In medizinischen Zusammenhängen dürfte eines der beliebtesten Modeworte derzeit wohl die „Natürlichkeit“ sein. Natürliche Therapien sind en vogue. Am besten heilen wir mit der Kraft der Natur. Ganz sanft. Chemie ist etwas, womit man vorsichtig sein muss. Richtig vorsichtig. Am besten sofort den eigenen Kindern den Kontakt mit Chemie verbieten. Da einige meiner besten Freunde aus Chemie bestehen, möchte ich mich aber einmal daran versuchen, eine Lanze für sie zu brechen.
Von einem Bären angefallen zu werden, ist ein recht natürliches Ereignis. Sich mit Tollkirschen zu vergiften ebenfalls. Es gibt also offenbar natürliche Gefahren und chemische Wunderbarkeiten. Allerdings bewirkt die Tollkirsche auch einen chemischen Prozess in unserem Körper und von einem Bären angegriffen zu werden, löst einen chemischen Sturm in unseren Hormondrüsen aus.
Offenbar sind „chemisch“ und „natürlich“ also nur Kofferwörter, in denen sich bestimmte Erwartungen und Wünsche von Menschen verbergen. So geht es vielen unserer Patienten und auch einigen von uns Heilberuflern. Das ist ein Problem.
Weltweit ist das Aufkommen antiwissenschaftlicher Bewegungen zu beobachten, die versuchen eine wunderbar komplizierte Welt mit einfachen Mitteln zu erklären. Impfpräventable Krankheiten sind in vielen Industrienationen wieder auf dem Vormarsch, weil unterkomplexe Vorstellungen von Impfstoffen allseitig kolportiert werden.
Dabei hat jeder von uns einmal gelernt, das Medizin nie ohne Risiko ist, Krankheit auch nicht und dass die Dosis das Gift macht.
Es wird von daher Zeit, dass unsere Patienten mehr über Abwägungen und Risikoprofile lernen. Das geht auch damit einher, dass wir die unrealistischen Verheißungen unserer Hochgeschwindigkeitsmedizin ablegen. Auch müssen wir natürlich lernen, genau diese Risikoerfassungskompetenz zu vermitteln.
Auch wenn es keiner hören will: Gesundheitsarbeit ist Gesellschaftsarbeit.
Zum Weiterlesen:
- Naturheilverfahren? Ich steh auf Chemie! DocCheck News am 6. November 2018
- Video: „Ohne Chemie? So etwas gibt es nicht!“ singt Mai Thi, GWUP-Blog am 26. März 2018
- Chemie ist böse und vergiftet uns alle, derStandard am 18. August 2015
- Natur ist gut und Chemie böse, GWUP-Blog am 13. Oktober 2013
- „Natur ist toll“-Doktrin: Das freut die Bestatter-Lobby, GWUP-Blog am 10. Juni 2015
- Für mich bitte nur ohne Chemie, Die Erde ist keine Scheibe am 8. Juli 2017
- Fatales Natürlichkeitsdenken der Impfgegner, GWUP-Blog am 11. Mai 2014
19. November 2018 um 14:59
Übrigens, auch die natürliche Wachsschicht auf der Schale von Äpfeln sind in Wahrheit … – –
Ablagerungen von Chemtrails!
https://www.facebook.com/DielockereSchraube/photos/a.1205725506111556/2446566602027434/?type=3&theater
19. November 2018 um 15:34
Schöner Artikel bei DocCheck – und gleich kommt in den Kommentaren eine Heulpraktikerin daher:
„Lebewesen Mensch, warum machtst du dir das Leben so schwer? Jahrtausende Erfahrungsheilkunde – alles liegt uns zu Füßen.“
Nicht nur falsch, sondern auch noch komplett am Thema vorbei, Gratulation!
19. November 2018 um 15:56
Opium und Morphium – nicht zu unterschätzende Naturheilmittel.
19. November 2018 um 16:46
Chemie erlaubt uns Menschen erst Mensch zu sein,denn die neuronalen Prozesse im Gehirn,sprich die neuronalen Reizweiterleitungen über die Synapsen, erfolgen über chemische Produkte(Neurotransmitter).Da gibt es zum Bsp. die Botenstoffe Serotonin,Dopamin,Adrenalin,Noradrenalin etc…Die Chemie „zaubert“ hier sozusagen unser Denken und Fühlen.Das ist keine Erfindung von Esoterikern sondern von der Evolution.
19. November 2018 um 18:02
Als studierter Chemiker muss ich sagen: Der Autor hat es sehr gut rübergebracht. Bitte mehr von solchen Artikeln.
19. November 2018 um 18:47
Letztlich muss man sogar die Chemiefabrik als etwas völlig Natürliches verstehen. Sie wurde schließlich von natürlich entstandenen Lebensformen auf der Erde gebaut, und die Fähigkeit zu diesem hochkomplexen Bau haben diese Lebensformen in der gleichen Evolution erworben, in der auch jeder andere Reproduktionsapparat seine Fähigkeit erworben hat.
Ausgerechnet jene, denen es gar nicht ganzheitlich und natürlich genug zugehen kann, erheben sich auf den Schwingen eines dümmlichen Narzissmus in ihrer Denke und Spreche am weitesten über die Natur.
19. November 2018 um 21:07
@ Elias Schwerdtfeger: Und zum Bau der Fabrik wurden ausschließlich aus der Natur genommene Materialien aufbereitet und verwendet. Viel natürlicher geht es echt kaum…
20. November 2018 um 07:18
Der Satz „Gesundheitsarbeit ist Gesellschaftsarbeit“ ist wichtig, das geht weit über die „Chemie“ hinaus. Wie wir wohnen, arbeiten usw. – all das ist nicht „natürlich“, trägt aber enorm zur hohen Lebenserwartung heute bei: http://scienceblogs.de/gesundheits-check/2018/06/13/die-natuerliche-gesundheit/
Witzigerweise verweisen viele „Alternativmediziner“ manchmal auch darauf – nämlich dann, wenn es darum geht, den Erfolg des Impfens zu bestreiten. Da führen sie gerne die Verbesserungen der Lebensbedingungen ins Feld.
20. November 2018 um 10:54
„Lebewesen Mensch, warum machtst du dir das Leben so schwer? Jahrtausende Erfahrungsheilkunde – alles liegt uns zu Füßen.“
Jupp, und das wäre doch eigentlich eine gute Gelegenheit einiges davon endlich mal ordentlich einzustampfen…
20. November 2018 um 12:44
Ich möchte noch ergänzen: Wer im Gleichgewicht mit der Umwelt lebt, ist tot. Schließlich zeichnet sich Leben dadurch aus, dass die Zellen von der Umwelt abgetrennt sind. Ganz spezielle ist es jetzt für Obdachlose ganz wichtig, dass sie nicht in ein Temperaturgleichgewicht mit ihrer Umgebung geraten.
20. November 2018 um 12:47
@Elias Schwerdtfeger:
Klar, die Chemiefabrik unterliegt den Naturgesetzen und ist nicht magisch.
21. November 2018 um 09:08
@ Josef Kuhn:
Ja, wobei es immer für gute Laune sorgt, wenn ich die weitgehende Eradizierung der Tollwut in unseren Landschaften auf verbesserte Ernährung und Hygiene unter Füchsen zurückführe.
22. November 2018 um 17:34
„Chemie“ ist ein schönes Wort mit mehreren Bedeutungen. Die chemische Industrie nennt sich gerne „Die Chemie“, eine Wissenschaftsdisziplin wird so bezeichnet und dann werden auch noch Produkte der Methoden von Stoffänderungen als „Chemie“ bezeichnet oder einfach alles, was nicht gerade eine Atom oder kleiner ist.
Vielleicht merken so einige, dass die angewandte Klassifikation manchmal nicht zur Bewertung ausreicht.
22. November 2018 um 18:49
@ libertador
Und manchmal muß einfach die Chemie stimmen
23. November 2018 um 16:34
Zu Thomas Meyer:
„Ganz speziell ist es jetzt für Obdachlose wichtig,dass sie nicht im Temperaturgleichgewicht mit ihrer Umgebung geraten…“
Dieser Satz bringt mein geistiges Gleichgewicht durcheinander.Jetzt müssen diese armen Kerle auch noch mit einem Thermometer am Schlafsack dahin vegetieren,oder ? Ich denke, dass Temperaturgleichgewicht bzw. die Chemie in dieser reichen Gesellschaft stimmt hier nicht.
Und,Gesundheitsarbeit ist meiner Ansicht nach nicht nur Gesellschaftsarbeit sondern zuallerserst „Arbeit“ in der zu heilenden Person selbst. Diese Person sollte die richtige Einstellung zu dem Geschenk der Gesundheit entwickeln und ein dementsprechendes gesundes Leben führen.Gesundheit ist nämlich nichts selbstverständliches…
12. Dezember 2018 um 10:10
Naturbelassene Produkte liegen derzeit voll im Trend. Doch wie lässt sich eigentlich unterscheiden, was »natürlich« und was »künstlich« ist?
https://www.spektrum.de/kolumne/natuerlich-mit-chemie/1612426