Als turmdersinne-Bloggerin staune ich immer wieder darüber, nach welchen Kriterien unser Wahrnehmungsapparat die Welt da draußen sortiert. Ein Mann beispielsweise wirkt offenbar erst dann so richtig männlich, wenn er zornig guckt. Das ist jedenfalls das Ergebnis von psychologischen Studien. Jetzt hat ein internationales Forscherteam noch einen draufgesetzt. Die Wissenschaftler fanden nämlich heraus, dass allein die Miene genügt, um Gesichter einem Geschlecht zuzuordnen.
Das Forscherteam um Ursula Hess (University of Quebec, Montreal) ging bei dem Versuch vom bereits Bekannten aus: Schon seit längerem weiß man, dass das Mienenspiel bestimmte visuelle Gesichtsmerkmale verstärkt: Männergesichter zeichnen sich beispielsweise durch einen kürzeren Abstand zwischen den Brauen und der Oberlippe aus. Weil ein wütend zusammengekniffenes Gesicht diesen Abstand ebenfalls verkürzt, wirken Männer mit zornigem Gesichtsausdruck besonders maskulin. Bei ängstlich aufgerissenen Augen dagegen ist der Oberlippen-Brauen-Abstand vergrößert, ein Merkmal, das sich auch bei weiblichen Gesichtern findet. Deshalb sehen ängstliche Frauengesichter noch femininer aus. Die gleiche Wirkung hat ein freudiges Lächeln. Es betont ein weiteres feminines Merkmal, indem es die Gesichtszüge runder macht.
Bei ihren aktuellen Experimenten verwendeten Ursula Hess und ihr Team Computergrafiken eines androgynen Gesichts, das entweder zornig, ängstlich oder fröhlich dreinschaute. Obwohl es sich keinem Geschlecht zuordnen ließ, identifizierten 300 Probanden die lächelnde und die ängstliche Variante häufiger als weiblich. Das zornige Gesicht dagegen war nach Ansicht der meisten Teilnehmer männlich.
In einer zweiten Versuchsreihe zeigten die Wissenschaftler einer Gruppe von 96 Probanden jeweils zehn ebenfalls am Computer erstellte zornige, fröhliche und ängstliche Gesichter, diesmal eindeutig als männlich oder weiblich erkennbar. Als sie die Reaktionszeiten der Probanden abstoppten, zeigte sich: Die schnellsten Antworten kamen, wenn anatomische Gesichtszüge und Emotion übereinstimmten, also bei zornigen Männer- und ängstlichen bzw. fröhlichen Frauengesichtern. Dagegen brauchten die Versuchspersonen deutlich länger, um zornige Frauengesichter und ängstliche bzw. fröhliche Männergesichter richtig zu identifizieren.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern – ob objektiv physiologisch oder lediglich subjektiv wahrgenommen – beschäftigen Forscher aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Einen Überblick über die aktuellen Forschungen gibt das nächste Symposium turmdersinne, dasvom 15.-17. Oktober 2010 in Nürnberg stattfindet. Der Titel: „Mann, Frau, Gehirn. Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft“. Das Programm wird derzeit zusammengestellt.
Links zum Thema:
- Symposium turmdersinne
- turmdersinne bei Twitter, offizieller Hashtag des Symposiums turmdersinne 2010: #symp