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Waldorfpädagogik: Wenn der „Ätherleib“ umgeworded wird

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Mag ein rein subjektiver Eindruck sein – aber so richtig kann die Verteidigung der Waldorfpädagogik durch Prof. Jost Schieren nicht überzeugen.

In der aktuellen Ausgabe von Psychologie Heute (10/2022) diskutiert Schieren mit dem moderaten Waldorf-Kritiker Prof. Heiner Ullrich über „Waldorfschule vs. Wissenschaft“.

Zwei Beispiele:

Psychologie Heute: Die anthroposophische Entwicklungslehre, die Herr Ullrich erwähnt, klingt allerdings ziemlich dogmatisch und nicht individuell: Das Kind kommt mit dem „Geistkörper“ zur Welt, mit sieben Jahren wird der „Ätherleib“ frei, sichtbar am Zahnwechsel, mit 14 folgt der „Astralleib“.

Schieren: Man kann diese Aussage dogmatisch gebrauchen oder aber heuristisch, also gewissermaßen als Instrument, um Kinder besser zu verstehen. Die Jahrsiebte sind keine festgesetzten Daten, sondern im besten Sinne fluide Rahmungen. Es geht darum, Entwicklungsprozesse bei Kindern ernst zu nehmen, und nicht darum, Setzungen vorzunehmen.

Ullrich: Sicher, man kann die steinersche Anthroposophie dogmatisch oder heuristisch gebrauchen. Interessant ist aber, dass man in Schulen zumeist dogmatisch nach jener verfährt. Das beinhaltet auch das Muster der vier Temperamente: sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch, melancholisch. Das ist eine vormoderne Denkform, die jahrhundertelang vorgeherrscht hat, aber weitgehend keine Rolle mehr spielt.

Heute werden in der Persönlichkeitspsychologie die Big Five in den Vordergrund gestellt. Sie sind empirisch validiert. Aber das nehmen viele Waldorfpädagoginnen und Waldorfpädagogen gar nicht zur Kenntnis.

Schieren: Es ist vieles im Umbruch und die Bemühung um eine wissenschaftliche Erforschung und Begründung der Waldorfpädagogik hat ein größeres Gewicht bekommen.

Wow – nach schlappen 100 Jahren Waldorfpädagogik fängt man allmählich an, mal über eine „wissenschaftliche Erforschung und Begründung“ nachzudenken? Gratuliere. Das ging ja schnell.

Blöd nur, dass „größeres“ eben nicht „großes“ Gewicht bedeutet. Und „Bemühung“ überhaupt nichts aussagt beziehungsweise in der Zeugnissprache sogar „erfolglos“ heißt.

Dann geht es um die Eurythmie.

Psychologie Heute: Warum gibt es […] nicht „bloßen“ Tanzunterricht? Geht es bei der Eurythmie auch um Übersinnliches?

Ullrich: Es geht immer um Übersinnliches. Die Waldorfschule ist die am stärksten weltanschaulich geprägte Reformschule. Es gibt keine Grenze zum Okkultismus. Es gibt den Wissenschaftsanspruch auf der einen Seite, und auf der anderen Seite werden Aussagen getroffen, die esoterisch-okkulter Herkunft sind. Man muss sehen, und daran arbeit ja auch Herr Schieren, wie man die Anthroposophie ein Stück weit aus dem Okkultismus herausholt.

Schieren: Die aktuelle Waldorfpädagogik geht tatsächlich in eine liberalere Richtung. Ja, es gibt Waldorfvertreter, die eher dogmatisch die Stellung der Anthroposophie in der Waldorfschule stark haben möchten, aber eben auch diejenigen, die kritisch und wissenschaftlich damit umgehen.

Was die Eurythmie anbelangt: Eigentlich ist jede echte ästhetische Erfahrung auch eine „Übersinnliche“ beziehungsweise nicht-sinnliche Erfahrung: Was in Dichtung, Musik und eben auch in Eurythmie erfahren wird, manifestiert sich nicht allein sinnlich-materiell.

Nur „ein Stück weit“ aus dem Okkultismus herausholen? Das ist nun eine überaus schwache Forderung von Herrn Ullrich.

Was Herrn Schieren angeht: Wiederum bedeutet „liberalere“ noch lange keine „liberale“ Richtung. Und „aber eben auch“ scheint eher auf eine Minderheit hinzudeuten.

Und dass Ullrich hier gar nicht speziell auf die „übersinnliche“ Eurythmie zielt, sondern auf den gesamten okkultistischen Unterbau der Anthroposophie mit all ihren geistigen Wesen und Kräften nach dem „Hellseher und Okkultisten“ (Anthroblogger) Rudolf Steiner, umschifft Schieren ebenfalls mehr oder weniger elegant.

Stattdessen wird im Weiteren ein Loblied auf die angeblich „tief humanistische Pädagogik“ gesungen, die Steiner geschaffen habe. Anscheinend bleibt es bei dem, was 2019 in der Süddeutschen zu lesen stand: Waldorfpädagogik ohne Steiner sei nun mal wie Aufklärung ohne Kant.

In Interviews wie diesem in Psychologie Heute wird die Rolle Steiners für die Waldorfpädagogik immer wieder heruntergespielt (Schieren: „Steiner ist nicht das Problem der Waldorfschule“) – aber auf konkrete Fragen, wie etwa nach dem Esoterisch-Okkulten oder den seltsamen Ideen Steiners zur kindlichen Entwicklung – kommen ausweichende oder verniedlichende Antworten.

So spricht Schieren sich dafür aus, „das Wording“ zu überdenken:

Wir können nicht mehr vom „Freiwerden des Ätherleibs“ sprechen, und die Leute sollen irgendein Mysterium schlucken.

Das ist aber keine Frage des „Wordings“, sondern von Überzeugungen. Distanziert man sich ohne Wenn und Aber inhaltlich von Quatsch wie „Ätherleib“ und „Geistkörper“ – oder nicht?

Das ist auch nichts, was erst noch „solide beforscht“ werden müsste, wie Schieren am Ende des Gesprächs zur Zukunft der Waldorfpädagogik ausführt.

Und was soll diese „Forschungs- und Aufklärungsarbeit“ überhaupt bringen, wenn man nicht einmal bereit ist, sich von dem offenkundigsten Nonsens des großen Gurus zu verabschieden, sondern sich lediglich an schrägen Umdeutungen versucht?

Zum Weiterlesen:

  • Waldorfschule vs. Wissenschaft? Psychologie Heute 10/2022
  • „Guten Morgen, liebe Kinder“: Langzeitdokumentation über eine Waldorfschule, Anthroposophie.blog am 5. April 2019
  • Ich sage: Waldorf heißt, sein Weltbild zu verschließen, Zeit-Online am 30. März 2019
  • 100 Jahre Waldorfschule: Erziehung als religiöser Kult, Deutschlandfunk am 6. September 2019
  • „Gravierende Mängel“: Genehmigung für Waldorfschule entzogen, Zeit-Online am 30. August 2022
  • Die Anthroposophen starten eine „Akzeptanz“-Offensive – mit Prozessen gegen Kritiker, GWUP-Blog am 15. August 2022

5 Kommentare

  1. Heisenbergs Enkel in der FAZ:

    „Flirt mit dem Übernatürlichen“
    „Es gibt Telepathie, ja, und eine Art paranormaler Verschränkung.“

    Der Interviewer lässt es unkommentiert stehen.

    Muss man sich da noch wundern?

    https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/benjamin-heisenberg-ueber-seinen-ersten-roman-lukusch-18302739.html

  2. Der Satz „Eigentlich ist jede echte ästhetische Erfahrung auch eine „Übersinnliche“ beziehungsweise nicht-sinnliche Erfahrung“ ist bei genauer Betrachtung Geschwurbel.

    Auf welchem Weg macht man diese „Erfahrung“? Mit welchem Sinnesorgan, wenn es „übersinnlich“ ist?

  3. Das ZDF berichtet vollkommen unkritisch in einem Beitrag über Wassernot und der Suche nach Quellen über einen Rutengänger. Engagiert von der Bohrfirma.

    „Für viele Wissenschaftler ist es hokuspokus“ heißt es da, aber letztlich sprudelt Wasser aus dem Bohrloch, dann wird es doch wohl funktioniert haben. Wer braucht diese Wissenschaftler mit ihren Bedenken.

    https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-wassernot—auf-der-suche-nach-neuen-quellen-100.html

  4. @Joseph Kuhn

    Jede „übersinnliche“ Erfahrung ist eine ästhetische Erfahrung.

    Dann klappt es auch mit der Wahrnehmungspsychologie und Erkenntnistheorie, aber das wäre das Zugeständnis der Bedeutungslosigkeit der eigenen (religiösen) Weltanschauung.

  5. Einmal mehr soll der offene Okkultismus des Hellsehers Steiner mit Rationalität und Wissenschaft „versöhnt“ werden. Das ist Unsinn und unmöglich, da können auch professorale Steiner-Verteidiger nur scheitern.

    Allein im Beispiel der Entwicklungsstufen nach Steiner ist das doch überdeutlich.

    Dieses okkulte Narrativ, das in der Tat den Alltag in den Waldorfschulen prägend bestimmt (von der Sitzordnung in der Klasse bis dazu, was die Kinder in welchem Alter „lernen dürfen“) ist auch keiner metaphorischen Deutung zugänglich und auch kein „Anhalt für die pädagogische Praxis“, es ist schlicht dummes Zeug und maximal unvereinbar mit dem, was wir heute mit ziemlicher Sicherheit über die kindliche Entwicklung wissen.

    Gleiches gilt für die primitive Persönlichkeitslehre Steiners.

    All das meinte er wortwörtlich und das meint der echte Steiner-Jünger heute auch – er vernebelt dies (q.e.d.) genau so lange, bis nach Steiners Vorstellung das, was allgemein als Wissenschaft angesehen wird, von seiner albernen und menschenfeindlichen Weltanschauung „überwölbt“, also assimiliert worden ist. Dann ist Steiner „vollendet“ – und seine Apologeten bräuchten dann keine „Zugeständnisse“ mehr zu machen.

    Ahriman behüte uns davor, dass dies jemals eintritt.

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