gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Leif Inselmann zeigt: Was Tolkien vom Alten Orient übernahm.

| 1 Kommentar

Leif Inselmann hat auf seinem Blog Wunderkammer der Kulturgeschichte und bei Academia einen Beitrag verfasst, der sich mit den altorientalistischen Einflüssen im Werk Tolkiens beschäftigt.

Dass Tolkien sich bei der Entwicklung seiner Welt ausgiebig von alten Mythen inspirieren ließ, ist bekannt:

Begonnen als vermeintliche „Rekonstruktion“ einer angelsächsischen Mythologie, inkorporierte er auch zahlreiche Motive vor allem nordischen, keltischen und christlichen Ursprungs: Die Figur des Earendil geht auf ein altenglisches Gedicht zurück, die Namen Gandalfs und der Zwerge aus dem Hobbit sind direkt dem „Zwergenkatalog“ der nordischen Völuspá entlehnt. Und während das versunkene Inselreich Númenor klar auf Platons Atlantis basiert, kann der „rebellische Engel“ Melkor/Morgoth nur schwer die Parallele zum christlichen Luzifer verhehlen.

Was Leif Inselmann nun besonders herausstellt:

Weit weniger bekannt ist dagegen, dass sich in Tolkiens Legendarium auch direkte Einflüsse aus der Mythologie des antiken Mesopotamien – den Kulturen der Sumerer, Babylonier und Assyrer – finden.

Dies lässt sich beobachten, wenn man Tolkiens eigene Schöpfungsgeschichte aus dem Kapitel Musik der Ainur im Silmarillion heranzieht:

Am Anfang sei der Eine gewesen, Eru Ilúvatar. Dieser schuf als erstes die Ainur (Valar und Maiar) als „Engel“ oder „niedere Götter“ und lehrte sie Melodien, die sie allein oder zu wenigen vor ihm sangen. Schließlich gab er ihnen ein einziges großes Thema, das sie gemeinsam singen und jeder nach seiner Art und Kunst ausgestalten sollten. Allein Melkor, der mächtigste der Ainur, flocht neue und missklingende Töne in das Lied ein und es kam zum Kampf zwischen seiner Melodie und der Ilúvatars. Nachdem sie dreimal solcherart miteinander gestritten haben, beendet Ilúvatar die Musik und zeigt den Ainur ein Gesicht ihres gemeinsamen Werkes, denn ihre Musik hat eine neue Welt gestaltet. Mit dem Schöpfungswort Eä! („Es sei!“) bringt Ilúvatar die Welt ins Sein. Einige der Ainur werden in diese hinabsteigen, um in der Welt zu wohnen und sie weiter auszugestalten – unter ihnen auch Melkor, der später Morgoth genannt wird, der dunkle Feind des Ersten Zeitalters. 

Woher nahm Tolkien die Inspiration für diese Geschichte? Tolkien-Experte Peter Gilliver saß 2006 in einer Choraufführung von Benjamin Brittens The Company of Heaven und machte dabei eine Entdeckung:

Hier finden sich all die fehlenden Motive: Der Chor der Engel nach vorgegebenem Thema, die Rebellion Luzifers in Form einer eigenen Melodie und der Kampf zwischen Missklang und Harmonie, während die einleitende Zeile („When all the sons of God shouted for joy“) Hiob 38,7 zitiert. Die Parallelen zwischen Brittons Company of Heaven und Tolkiens Ainulindale sind so auffällig, dass nicht an eine zufällige Ähnlichkeit zu denken ist. 

Dieses Lied konnte jedoch nicht direkt die Inspiration für Tolkiens Kosmogonie gewesen sein:

Brittens Lied wurde erst 1937 für eine Ausstrahlung der BBC komponiert, lange nach Tolkiens ersten Entwürfen für die Musik der Ainur. Auch diese aber wurden nicht vor 1937 publiziert, können also umgekehrt auch nicht die Vorlage für die Company of Heaven darstellen. Daraus ergibt sich nur eine mögliche Lösung: Beide Werke müssen unabhängig voneinander auf ein gemeinsames Vorbild zurückgehen.

Und dieses scheint eine babylonische Quelle zu sein, die vom britischen Forscher William Henry Fox Talbor unter dem Titel The Revolt in Heaven übersetzt wurde:

Bemerkenswert ist allerdings der Hintergrund des „babylonischen“ Mythos – entspringt dieser nämlich größtenteils der Fantasie des Übersetzers Talbot. Tatsächlich handelt es sich bei dessen The Revolt in Heaven nicht um einen eigenständigen Text, sondern um ein Fragment der siebten Tafel des Enūma eliš, auch bekannt als „Lied auf Marduk“ oder „Babylonisches Weltschöpfungsepos“ ‒ einem der umfangreichsten und religionsgeschichtlich bedeutendsten Texte der babylonischen Kultur.

Ob Tolkien wusste, dass es sich bei Talbots Text um eine fehlerhafte Übertragung des Enūma eliš handelte, ist nicht bekannt. Doch hat dies nur nachrangige Bedeutung für die Verwendung des Stoffes im Rahmen seiner Kosmogonie. Die Bezüge zwischen Tolkiens Schöpfungsgeschichte und dessen altorientalischen Vorbildern aber enden nicht mit der Adaption eines falschen babylonischen Mythos.

Tatsächlich scheint Tolkien schon früh ein Interesse – und zumindest Grundkenntnisse – an altorientalischen Sprachen entwickelt zu haben:

Alles deutet darauf hin, dass Tolkien schon in frühen Jahren zumindest oberflächliche Kenntnisse der altorientalischen Sprachen besaß.

Diese Kenntnisse spiegeln sich auch sprachlich in seinem Werk wider:

Zwar ist der Bezug zwischen akkadisch-sumerischen Wörtern und Tolkiens numinosen Wesen in den frühesten Entwürfen am stärksten, doch noch in Werken späterer Jahrzehnte, die Ereignisse des Zweiten Zeitalters thematisieren, finden sich Echos des Akkadischen.

Weiter:

So schlug der Historiker Alexandre Nemirovsky vor, dass die Schwarze Sprache Saurons durch das Hurritische inspiriert sein könnte, eine vor allem im bronzezeitlichen Syrien verwendete und nur mit dem Urartäischen verwandte Keilschriftsprache (s. Ardalambion und Axén o. J.).

Neben strukturellen Parallelen lässt sich unter 33 bezeugten Wörtern und Suffixen der Schwarzen Sprache bei nicht weniger als zehn eine gewisse Ähnlichkeit zum entsprechenden hurritischen Wort erkennen, so etwa ash „einer“ (hurr. š(e)), durb– „herrschen“ (hurr. turob), gimb– „finden“ (hurr. –ki(b)), krimp– „binden“ (hurr. ker-imbu- „dauerhaft lang machen“, u.a. in Bezug auf Seile) sowie die Morpheme –ûk (hurr. –ok-) i.S.v. „vollständig, in Gänze“, at (hurr. ed) für den Jussiv/Futur der Absicht, –ul „sie“ (hurr. –lla/-l) als Akkusativobjekt Plural in der Verbalphrase sowie die Nullendung des Ergativs (z.B. bei nazg– „Ring“).

Leif kommt zum Fazit:

Vor allem in seiner frühen Schaffensphase scheint Tolkien altorientalische Einflüsse aufgenommen zu haben, die Eingang in die ersten Versionen seiner Kosmogonie fanden: So basiert die Musik der Ainur offenbar maßgeblich auf dem fehlübersetzten Keilschrifttext The Revolt in Heaven von William Henry Fox Talbot.

Auch die Namen der göttlichen Numina Enu/Eru, Ilu(vatar) und Malko/Melkor sowie der Königin Istar/Tar-Míriel dürften der akkadischen Sprache entlehnt sein. Auch wenn sich manche der Namensparallelen in späteren Textversionen verlieren, so scheinen bei Tolkiens fiktiven Sprachen doch auch weiterhin gewisse Einflüsse des Akkadischen und möglicherweise auch Hurritischen durch. Bemerkenswerterweise fanden diese Themen keinen direkten Eingang in die beiden Romane Der Hobbit und Der Herr der Ringe, sodass die populäre Rezeption von Tolkiens Legendarium bis heute vor allem vom Bild einer europäisch inspirierten Mythologie bestimmt wird.

Hier der gesamte Artikel.

Zum Thema:

  • Artikel: Moorleichen und Quellenfälschung: Leif Inselmann arbeitet den Fall Alfred Dieck auf., GWUP-Blog vom 15.06.2025
  • Artikel: Narrative der Urgeschichte: Zwischen Mythos und Wissenschaft | Wunderkammer der Kulturgeschichte, GWUP-Blog vom 07.05.2025
  • Artikel: Leif Inselmann über eine Oster-Kontroverse in der altorientalistischen Forschung: „Glaubten die Babylonier an Tod und Wiederauferstehung des Gottes Marduk?“, GWUP-Blog vom 22.04.2025
  • Artikel: Gab es einen Drachen namens Kur in der sumerischen Mythologie?, Leif Inselmann (Wunderkammer der Kulturgeschichte) vom 21.02.2023

Hinweis:

  • Falls ihr Ideen, Anregungen oder Empfehlungen habt bzw. selbst ein Gastkapitel für den GWUP-Blog schreiben möchtet, kontaktiert uns unter: blog@gwup.org.
  • Wenn ihr noch nicht im Skeptischen Netzwerk angemeldet seid, möchten wir euch herzlich dazu einladen. Dort finden GWUP-Mitglieder und Interessierte eine Plattform für Diskussionen und Austausch rund um skeptische Themen:

Ein Kommentar

  1. Spannend! Vielen herzlichen Dank für diese Informationen.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.