Auf Leif Inselmanns Blog Wunderkammer der Kulturgeschichte dreht sich der aktuelle Beitrag um das Thema Moorleichen. Dies ist vor allem deswegen interessant, weil in der Forschung ein Großteil der vermeintlichen Funde auf gefälschte Daten zurückgeht. Darüber hat Leif nicht nur geschrieben, sondern auch in einem Podcast gesprochen.
Die Moorleichen, welche immer wieder beim Torfstechen in den Mooren Mittel- und Nordeuropas zutage traten, gehören zu den unheimlichsten und rätselhaften Relikten der Ur- und Frühgeschichte. Ihre Niederlegung im Moor fernab der Zivilisation, ganz im Widerspruch zu den üblichen Bestattungsriten ihrer Zeit, auch die immer wieder dokumentierten tödlichen Verletzungen geben der archäologischen Forschung seit über einem Jahrhundert Anlass zu Deutungen und Kontroversen.
Die erfundenen Moorleichen des Alfred Dieck
Leif rollt dafür einen berühmten Fall in der Moorleichen-Forschung auf.
Fast alle Moorleichen wurden vom 18. bis mittleren 20. Jahrhundert durch Zufall beim händischen Torfstechen entdeckt, nur wenige davon archäologisch untersucht und bewahrt. Viele dagegen zerfielen ohne professionelle Konservierung, wurden auf dem lokalen Friedhof wiederbestattet, manche sogar verkauft und ‒ als Ersatz für ägyptische Mumien ‒ zu Medizin verarbeitet. Diese sogenannten „Papierleichen“ sind heute nur noch durch Erwähnungen in historischen Quellen bezeugt, deren Detailreichtum und Zuverlässigkeit oft zu wünschen übriglassen.
Hier kommt der Name Alfred Dieck ins Spiel. Er:
promovierte 1939 über Die Bedeutung der Moor- und Wasserfunde der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung unter besonderer Berücksichtigung der Holzgestalten, Moorleichen und Menschenopferberichte.
In den 1950er Jahren fand er
eine Stelle in der niedersächsischen Landesverwaltung in Hannover fand, welche er bis zu seiner Pensionierung 1971 behielt. Währenddessen widmete er sich seiner Berufung, Quellen über Moorleichen und andere Moorfunde zu sammeln. Auch wenn er nie persönlich eine Moorleiche entdeckte oder untersuchte, so sichtete er Publikationen, besuchte Museen und Archive, sprach und korrespondierte mit zahlreichen Augenzeugen und deren Nachkommen.
Damit stieg die Anzahl der dokumentierten Moorleichen rasant:
Waren ihm 1939 noch 123 Moorleichen bekannt gewesen, waren es 1941 schon 159 und zehn Jahre später etwa 500. Von seinem Hauptwerk, welches unter dem Titel Die europäischen Moorleichenfunde (Hominidenmoorfunde) sämtliche bekannten Funde vorlegen sollte, erschien 1965 nur der erste Teil. In dem rund 700 Moorleichen umfassenden Katalog verzichtete Dieck zur Enttäuschung seiner Fachkollegen fast komplett auf Quellenangaben. Diese sollten in einem geplanten zweiten Teil vorgelegt werden, der jedoch nie erschien.
Bei seiner letzten Zählung 1986 umfasste Diecks Material nicht weniger als 1873 Moorleichen aus ganz Europa, davon allein 626 Funde aus Niedersachsen und Bremen.
1966 lobte der Historiker Rudolf Grenz Diecks Monographie als Standardwerk, äußerte jedoch vereinzelt Kritik am Umgang mit den Quellen.
Größere Zweifel führte der Moorleichenforscher Wijnand van der Sanden Ende der 1980er Jahre an. Er überprüfte die Funde Diecks und stellte sie in einem Artikel zusammen:
Für die Niederlande hatte der inzwischen verstorbene Dieck zuletzt insgesamt 51 Moorleichen erwähnt – von diesen ließen sich jedoch nur 14 (27,5 %) durch unabhängige Quellen bestätigen, während es sich bei 16 (31,5 %) um „imaginäre, unsichere, möglicherweise doppelt gezählte oder auf andere Weise falsch aufgenommene Meldungen handelt“. 21 Moorleichen (41 %) waren nur durch Diecks Schriften belegt, die ursprünglichen Quellen (verstorbene Informanten, zerstörte oder verlorene Archive, Briefe, Tagebücher etc.) nicht mehr nachprüfbar.
Fünf Moorleichen, die angeblich zusammen mit Pferden gefunden wurden, basierten entweder auf Sagen oder einer nicht nachvollziehbaren persönlichen Mitteilung eines gewissen Kapitän Bellen. Bei anderen Funden schien es sich um Doppelnennungen zu handeln. Das angebliche Tagebuch des Hauslehrers Johannes Becker, welchem Dieck mehr als 50 Moorleichenfunde entnommen haben will, ließ sich auch bei aufwendiger Recherche an verschiedenen Institutionen nicht mehr auffinden. In zwei Fällen konnten Menschen, die von Dieck als lokale Gewährsleute genannt wurden, nicht in den Karteien der jeweiligen Einwohnermeldeämter bestätigt werden.
Ihm fielen noch weitere Ungereimtheiten bei Diecks Arbeit auf. Trotzdem:
Noch aber hielt van der Sanden davon Abstand, „das Kind mit dem Bade auszuschütten, mit anderen Worten: alles als fiktiv zu bezeichnen“ – liege doch sicher „bei vielen Meldungen ein echter Fund zugrunde“, der im Laufe der Zeit ausgeschmückt, von Dieck unkritisch aufgenommen und mit zweifelhaften Deutungen versehen worden sei. Dass van der Sanden Diecks Nachlass als „wissenschaftlich ‚sehr unsauber‘“ beschrieb, sollte sich noch als Untertreibung herausstellen.
Die Kritik an Dieck nahm Fahrt auf, als Sabine Eisenbeiß in ihrer Magisterarbeit den Bestand an Moorleichen in Niedersachsen quellenkritisch aufarbeitete:
Von den 655 Moorleichenfunden, die Dieck allein für das Land Niedersachsen verzeichnete, konnte sie bei einem Abgleich mit den Ortsakten des niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege nur 70 Funde unabhängig bestätigen. In wiederholten Fällen ergaben sich Widersprüche zwischen verschiedenen Fassungen derselben Fundberichte in Diecks Nachlass und Publikationen – Beschreibungen der Funde änderten sich und wurden detailreicher, mitunter wechselten die angeblichen Quellen. Manche Moorleichen, die Dieck seinen Quellen zufolge schon vor 1965 hätten bekannt sein müssen, tauchten auffälligerweise in seiner Monografie nicht auf.
Eine weitere Magisterarbeit, diesmal von Katharina Haugwitz, widmete sich den Moorleichenfunden aus Schleswig-Holstein. Auch hier:
Unter den von Dieck genannten Moorleichenfunden, welche bis 1989 auf insgesamt 132 angewachsen waren, konnte sie insgesamt 61 durch unabhängige Quellen (v.a. Ortsakten) verifizieren, während 22 unsicher blieben, es sich bei vieren um Missverständnisse handelte und 16 nur in den Schriften Alfred Diecks auftauchten. Für einen „Kopf mit einem vollständigen und einem abgeschnittenen Zopf“ etwa, angeblich 1847 bei Gettorf (Kr. Rendsburg-Eckernförde) gefunden, bleibt Dieck die einzige Quelle.
Der letzte Sargnagel:
2003 stieß van der Sanden dann unter Diecks Dokumenten auf zwei Seiten, die dieser offenbar einem deutschsprachigen ethnographischen Buch entnommen hatte: Darauf abgebildet waren Umzeichnungen von Tätowierungen, die in jüngster Vergangenheit bei Menschen in Bosnien beobachtet worden waren – und welche eine auffällige Ähnlichkeit zu den von Dieck publizierten Tätowierungen angeblicher Moorleichen aufwiesen.
Van der Sanden und Eisenbeiß folgerten daraus und aus ihren weiteren Entdeckungen, dass
Dieck eine imaginäre Welt geschaffen hatte – eine Welt, die er über mehrere Jahrzehnte aufrecht erhalten konnte. Diecks Publikationen enthalten Moorleichen, die niemals gefunden wurden, und Moorfunde, die er an seinem Schreibtisch gemacht hat ‒ einschließlich schriftlicher oder mündlicher Quellen. Der Nachweis seiner Täuschung ist zum einen statistischer Natur, zum anderen ließ sich aber auch belegen, dass Dieck andere Quellen kopierte.
Der Wissenschaft erwies Dieck einen Bärendienst:
Der Schaden für die archäologische Forschung ist immens: Nicht nur wirft die lange Zeit unkritische Rezeption von Diecks Werken durch zahlreiche Forscher und Institutionen kein gutes Licht auf dieselben – auch fehlt nach wie vor ein zuverlässiger Überblick über den Gesamtbestand an historisch dokumentierten „Papierleichen“, welche für manche Regionen bis heute nicht adäquat aufgearbeitet sind.
Hier entlang geht’s zum vollen Text:
Moorleichen: Zwischen Mythos, Mord und Medienhype
Zur Vertiefung des Themas gab es dann noch eine 2-stündige Podcastfolge von Alle Zeit der Welt, bei der Leif zu Gast war.
Was ist eine Moorleiche? Was steckt hinter den rätselhaften Toten im Moor? Rituelle Menschenopfer? Strafgerichte? Oder moderne Projektionen?
In dieser Folge nehmen wir euch mit auf eine Spurensuche zwischen Archäologie und Ideologie. Wir sprechen über berühmte Funde wie den Tollund-Mann, über forensische Methoden – und über einen der größten wissenschaftlichen Skandale der deutschen Archäologie: Alfred Dieck, der über Jahrzehnte Hunderte Moorleichen erfand oder unkritisch überlieferte.
Zwischen forensischer Präzision und ideologischer Projektion fragen wir: Was verraten Moorleichen wirklich – und was sagt unsere Faszination über uns selbst?
Gast: Leif Inselmann
Zum Thema:
- Homepage: Wunderkammer der Kulturgeschichte
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16. Juni 2025 um 14:25
„Ihm vielen noch weitere Ungereimtheiten … auf“ … — fielen
16. Juni 2025 um 15:36
Danke, ist ausgebessert!