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Heilpraktiker-Prozess in Ingolstadt: „Die Not der Menschen ausgenutzt“

| 6 Kommentare

Der Medizinrechtler Christian Nobmann kommentierte dieser Tage noch einmal den Fall einer Heilpraktikerin, die nach dem Krebstod einer Patientin zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt wurde („Schlangengift statt Chemo“):

Nobmann:

Das OLG München sprach der Patientin eine Mitschuld zu, weil sie sich freiwillig für den Abbruch der möglicherweise lebensrettenden Therapie entschieden hatte. Das zeigt umso mehr, wie wichtig die Aufklärung über sog. Alternativmedizin ist.

Eventuell trägt dazu auch ein Prozess bei, der gestern vor dem Landgericht Ingolstadt eröffnet worden ist:

Es geht um eine Heilpraktikerin aus Schrobenhausen (Bayern), die Krebspatienten mit dem „Scharlatanerieprodukt“ BG-MUN behandelte. Nach einem stern TV-Bericht verhängte das Landratsamt ein Berufsverbot.

Jetzt muss sich die 55-jährige noch wegen Betrugs verantworten:

Der Prozess wird sich über Monate ziehen, vor allem wegen der Beweisaufnahme. Als Grund für die umfangreiche und lange Beweisaufnahme nannte der Sprecher des Landgerichts Ingolstadt die Vielzahl der angeklagten Betrugsfälle, hinter denen entsprechend viele Einzelschicksale von Patienten stünden.

Insgesamt hat die Strafkammer rund 40 Termine angesetzt. Das Urteil wird erst im nächsten Jahr erwartet.

Eines jedoch nimmt der Science-Blogger Dr. Joseph Kuhn heute schon vorweg – nämlich „die fruchtlose Endlosschleife der immer gleichen Argumente“:

„Es handelt sich um Einzelfälle“ und „In der Schulmedizin gibt es noch viel schlimmere Fälle“.

Dazu ist natürlich schon längst alles gesagt. Hoffen wir also, dass Politik und Justiz endlich „ab da“ weiterdiskutieren.

Zum Weiterlesen:

  • Heilpraktikerreform in der Endlosschleife, Gesundheits-Check am 19. Juni 2021
  • Landgericht Ingolstadt: Betrug mit wirkungslosem Krebs-Mittel, BR24 am 18. Juni 2021
  • Heilpraktikerin muss nach Tod von Patientin Schmerzensgeld zahlen, lto am 25. März 2021
  • Nach „stern TV“: Landratsamt entzieht BG-Mun-Heilpraktikerin die Zulassung, GWUP-Blog am 9. Oktober 2019
  • Stern-TV-Video: Tödliche Abzocke bei der Heilpraktikerin mit einem Krebs-„Wundermittel“, GWUP-Blog am 29. September 2019
  • Schrobenhausener Heilpraktikerin bekommt Berufsverbot, donaukurier am 7. Oktober 2019
  • Gesundheit in Gefahr – unter den Augen der Politik? Gesundheits-Check am 3. Oktober 2019
  • Grams‘ Sprechstunde: Heilpraktiker beschränken, um Patienten zu schützen, spektrum am 17. November 2020
  • Heilpraktiker können jubeln: Das lang erwartete „Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht“ ist da, GWUP-Blog am 21. Mai 2021

6 Kommentare

  1. Nach aktueller Rechtslage kann ein HP fast alles machen, wenn er seine Patienten „aufgeklärt“ hat.

    Allerdings frage ich mich, ob jemand, der von Medizin letztlich keine Ahnung hat, überhaupt rechtskräftig über über Sinn und Notwendigkeit einer evidenzbasierten Behandlung und mögliche Alternativen aufklären kann.

    Wer nicht weiß, wovon er eigentlich abrät, kann doch keine ernstzunehmende Aufklärung betreiben.

  2. @nota.bene

    Es ist noch viel schlimmer.

    Da Gerichte bei uns bei der Strafzumessung den Grad der persönlichen Schuld zugrunde zu legen haben, ist es aufgrund der Sachlage bei Heilpraktikern, für die der Gesetzgeber weder eine geordnete Ausbildung verlangt noch Standards für die Behandlung im Sinne einer „best practice“ oder wenigstens durch Negativ- oder Positivlisten Grenzen setzt, gezwungen, nach dem Maßstab der Einsichtsfähigkeit und der Kenntnisse des jeweiligen Heilpraktikers zu urteilen.

    Dieses schwere Versäumnis des Gesetzgebers, Folge von 65 Jahren Untätigkeit nach der „Freigabe“ des HP-„Berufes“ durch das Bundesverwaltungsgericht, macht ihn nicht im juristischen, aber im moralischen Sinne zum Mitverantwortlichen. Ihm, nicht der Patienten in diesem Falle, gebührt die Mitschuld. Ihm müsste die Haftung auferlegt werden, die vom Heilpraktiker nicht zu erlangen ist.

    Wann wird es endlich ein Ende haben, dass diese Vorkommnisse, die ersichtlich vor diesem Hintergrund Systemfehler sind, also solche, die unvermeidlich im System „Heilpraktiker“ auftreten müssen, als „Einzelfälle“ abgetan werden?

    Besonders deutlich wurde die Situation im Krefelder Prozess gegen den Heilpraktiker Klaus R. aus Brüggen-Bracht, der drei KrebspatientInnen in seiner Verblendung zu Tode gebracht hat. Das Gericht war in diesem Prozess sehr verständig und hat das Grundproblem offenbar sehr genau erkannt. Aber tun konnte es nichts – es blieb bei einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren für den Angeklagten.

    Was etwa der Strafe für fahrlässige Tötung im Straßenverkehr bei Ersttätern entspricht. Juristisch einwandfrei. Aber ist eine Übertragung dieses Maßstabes auf die Tätigkeit eines Heilpraktikers überhaupt möglich? Nur insofern, als man es in beiden Fällen mit einem systemischen Versagen zu tun hat. Aber man wird mir zustimmen, dass die Vergleichbarkeit dort endet.

    Der Krefelder Prozess gab mir Gelegenheit, das Problem pointiert darzustellen. Was dort galt, gilt im Grunde für jeden Prozess im Heilpraktikerbereich:

    „Der Gesetzgeber und die Anklagebank in Krefeld“

    https://keineahnungvongarnix.de/?p=7238

  3. @Udo Endruscheit

    Vielen Dank, genau das wollte ich damit ausdrücken. Heilpraktiker ist, als würde man jemanden, der einen Wochenend-Schnupperkurs im Segelfliegen absolviert hat, einen Passagierjet fliegen lassen.

  4. @nota.bene

    Das finde ich einen sehr interessanten rechtlichen Aspekt und frage mich, ob man da nicht juristisch ansetzen könnte.

    Für die hunderttausendfach bewährte Corona-Impfung musste ich nicht nur einen riesigen Aufklärungsbogen unterschreiben, sondern auch einen Anamnesebogen ausfüllen und hatte ein Arztgespräch, obwohl ich ausdrücklich angekreuzt hatte, auf ärztliche Aufklärung zu verzichten.

    Und ein/e Heilpraktiker/in soll ohne jede Ahnung vom Thema eine gültige „Aufklärung“ zu den Risiken einer Behandlung (oder des Unterlassens einer Behandlung) leisten können?

  5. @ ratiogeraet:

    In aller Regel werden sich Patienten von Heilpraktiker/innen nicht über fehlende Aufklärung beschweren oder gar deswegen klagen, weil sie ja ganz gezielt dorthin gehen.

    Sie wollen nicht wissen, was die Medizin anzubieten hat, sondern etwas Alternatives, Sanftes, Ganzheitliches, mit Energie und Schwingungen (aber ohne Strahlen!).

    Man schaue sich das Behandlungsrepertoire der angeklagen Heilpraktikerin an. Wer geht dahin?

    Vermutlich kaum jemand, der über „schulmedizinische“ Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt werden will.

    Auch über die Aufklärungsgespräche von Heilpaktiker/innen gibt es übrigens meines Wissens keine Forschung.

  6. @Udo Endruscheit

    Vielen Dank auch von mir für die verlinkte Analyse! Neben vielen anderen gefällt mir ein Satz ganz besonders, denn so prägnant kann man (leider) viele dieser unerfreulichen Geschichten aus dem Heilpraktikerumfeld zusammenfassen:

    „Vieles aus dem Prozessverlauf deutet darauf hin, dass Klaus R. in die Blase einer Scheinkompetenz hineingewachsen ist, an deren Anfang die amtliche Zulassung als Heilpraktiker stand.“

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