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Die Homöopathie und der „Binnenkonsens“: Es ging nie um Wirksamkeit, nur um Politik

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Heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS): ein interessanter Artikel darüber, wie der widersinnige „Binnenkonsens“ dereinst zustande gekommen ist – also der gesetzliche Schutzzaun um die Homöopathie.

FAS: Warum ist es überhaupt so, dass Zuckerkugeln ohne pharmazeutisch nachweisbaren Wirkstoff in Deutschland als apothekenpflichtige Arzneimittel angeboten werden, genauso wie Antibiotika und Blutverdünner?

Um das zu verstehen, muss man mehr als vierzig Jahre zurückschauen.

Es ist die Zeit, in der Helmut Schmidt (SPD) als Bundeskanzler mit einer sozialliberalen Koalition das Land regiert […] Im Bundestag in Bonn findet die entscheidende Abstimmung über den Status der Homöopathie am 6. Mai 1976 statt, einem Donnerstag. Es wird ein Freudentag für alle Globuli-Hersteller und Hahnemann-Anhänger in Deutschland. Denn die Abgeordneten votieren einstimmig dafür, dass homöopathische Präparate als Arzneimittel zugelassen werden können, auch wenn es keinen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit gibt, wie er für Medikamente der Schulmedizin nötig ist.

Es kommt sogar noch besser: Die Entscheidung, welche Kügelchen, Pulver und Tropfen zugelassen werden sollen, delegieren die Politiker an eine Kommission, deren Besetzung sie den Homöopathen überlassen. Seitdem gilt ganz offiziell: Wenn diese Insider sich einig sind, dann wird das jeweilige Mittel schon helfen.

Gemessen an den heute üblichen Vorsichtsmaßnahmen gegen Korruption und Vorteilsnahme eine bemerkenswerte Regel, die 1976 unter dem hübsch harmlos klingenden Begriff „Binnenkonsens“ eingeführt wird.

Vorausgegangen war der Contergan-Skandal zwischen 1958 und 1961 und eine damit verbundene Forderung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1965 nach mehr Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit von Medikamenten. Ein Gesetzesentwurf der SPD-Gesundheitsministerin Katharina Focke sah daher 1973 vor, keinen Unterschied zwischen der Zulassung von homöopathischen und schulmedizinischen Arzneimitteln zu machen.

FAS: Für die Homöopathen in Deutschland ist das ein Fanal. Sie wissen, dass es keine Studien gibt, mit denen sie Naturwissenschaftler davon überzeugen können, dass ihre Präparate mehr bewirken als ein Placebo. Sie ahnen wohl auch, dass es solche Studien auf absehbare Zeit nicht geben wird.

Also starten sie eine konsequente Lobby-Kampagne, mit der sie in weniger als drei Jahren das Gesetzesvorhaben zu ihren Gunsten verwässern – indem zum Beispiel ein „Gutachter“ die Allgemeinverbindlichkeit der wissenschaftlichen Methode grundsätzlich in Frage stellt und sie für die Homöopathie kurzerhand als „nicht geeignet“ erklärt. Und diese Phrasen von einem „Methodenpluralismus“ bei der Arzneimittelzulassung verfangen bei den Abgeordneten tatsächlich.

FAS: Der Freiburger Medizinhistoriker Nicholas Eschenbruch ordnet das Abstimmungsergebnis als Resultat einer verbreiteten antirationalen und obrigkeitskritischen gesellschaftlichen Stimmung ein […]

Ein Abgeordneter der Union tut sich am 6. Mai 1976 besonders hervor. Er hievt den Arzneimittelstreit […] auf die Ebene des Systemkonflikts zwischen Ost und West. Es ist der Fraktionsvorsitzende Karl Carstens, der spätere Bundespräsident, dessen Ehefrau Veronika als Internistin vorzugsweise homöopathische und naturheilkundliche Verfahren anwendet.

Bis heute gehört die Karl und Veronika Carstens-Stiftung zu den aktivsten Homöopathie-Lobbyisten. Und sie zeigt eine bemerkenswerte Inkonsequenz, wenn sie einerseits darauf beharrt, dass die spezifische Wirksamkeit ihrer potenzierten Mittelchen über Placebo durch zahlreiche Studien belegt sei, andererseits aber vehement am Binnenkonsens festhält.

Ob an dem „seltsamen Konsens aus dem Jahr 1976“ zu rütteln ist, beurteilt der FAS-Redakteur Sebastian Balzter eher zurückhaltend – trotz gegenwärtiger Initiativen wie etwa dem Parteitags-Antrag von grünen Jungpolitikern „gegen die derzeitige Bevorteilung der Homöopathie“:

FAS: Vielleicht reicht es ja, die richtigen Freunde zu haben, auch wenn es nicht mehr so viele sind wie früher.

Zum Weiterlesen:

  • Die ganz große Globuli-Koalition, FAZ+ am 24. September 2019
  • Der Scharlatan ist ein Meister aus Deutschland, Psiram am 3. April 2018
  • Homeopathy for pre-menstrual syndrome? A critical assessment of a recent trial, edzardernst am 13. September 2019
  • Homöopathie: Staatlich gefördertes magisches Denken, Spiegel-Online am 10. September 2019
  • Ärzteappell „Rettet die Medizin“, Gesundheits-Check am 14. September 2019
  • Binnenkonsens: Was ist das eigentlich? INH am 27. April 2019
  • Offener Brief an Gesundheitsminister Spahn: Die Scheidegrenze ist die nachgewiesene Wirksamkeit, hpd am 17. Juni 2019

7 Kommentare

  1. Dazu passt diese schöne Visualisierung auf Zeit Online, wann welche Stichwörter wie häufig in den Bundestagsdebatten der vergangenen 70 Jahre vorkamen.

    Hier für das Stichwort Homöopathie:
    https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/bundestag-jubilaeum-70-jahre-parlament-reden-woerter-sprache-wandel#s=hom%C3%B6opathie

    Und hier Homöopathie, Arzneimittelgesetz, Arzneimittelsicherheit, Placebo:
    https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/bundestag-jubilaeum-70-jahre-parlament-reden-woerter-sprache-wandel#s=hom%C3%B6opathie%2Carzneimittelgesetz%2Carzneimittelsicherheit%2Cplacebo

  2. Homöopathie und Binnenkonsens waren damals auch Titelthema im Spiegel: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8716404.html. Schlagzeile: „Rückfall ins Mittelalter“. Erfrischend kritisch waren sie damals. Hat aber leider weder geholfen noch gewirkt.

  3. Die Hufelandgesellschaft beklagt sich in einem offenen Brief, dass sich KBV-Chef Gassen für ein Ende der Kassenfinanzierung der Homöopathie ausspricht. Joseph Kuhn ordnet die Argumentation der Alternativmediziner passend ein.

    http://scienceblogs.de/gesundheits-check/2019/09/17/der-homoeopathische-wirksamkeitsmythos/

  4. Ein ganz schlechtes Zeichen. Nur die Homoöpathielobby wird zufrieden sein.

  5. Pingback: Beschwerde beim Presserat über Werner Bartens: Homöopathie ist gefährlich! – Gesundheits-Check

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