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Verdienstkreuz für Thomas Gandow

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Ein Gastkommentar von Andreas Dietz:

Unserer Republik ist vor Kurzem der Bundespräsident abhanden gekommen. Vielleicht war das ein großer Glücksfall – zumindest wenn man die Bedeutung dieses Ereignisses daran misst, wer Bundesverdienstkreuze verliehen bekommt.

Wir erinnern uns: Horst Köhler ehrte den Kreationisten Reinhard Haupt für dessenVerdienste um die Evolutionsbiologie und Christian Wulff sah in der Auszeichnung des Homöopathie-Lobbyisten Wolfgang Springer offenbar eine Sternstunde der wissenschaftlichen Medizin.

Nun, da wir gerade keinen Bundespräsidenten haben, bekommt auch mal ein Vertreter der Aufklärung seine Chance.

Ob Wulff die Ehrung des ehemaligen Sektenbeauftragten Thomas Gandow, die Anfang dieses Monats erfolgt, vor seinem Rücktritt noch unterzeichnete, lässt sich schwer sagen. Vielleicht hatte auch Horst Seehofer, der als Bundesratspräsident vorübergehend eingesprungen ist, eine Erleuchtung.

Wir Aufklärer jedenfalls sollten uns freuen.

Dass der Preisträger Thomas Gandow (ehemals auch Mitglied des GWUP-Wissenschaftsrats) von Beruf Pfarrer ist, könnte einige atheistische Vertreter der Aufklärung allerdings veranlassen, in tiefes Schweigen zu verfallen – stößt man sich doch auch bei der Nominierung des Bürgerrechtlers Joachim Gauck für das Bundespräsidentenamt vor allem an seinem Beruf.

Ich – selbst gottlos – finde das albern.

Die beiden evangelischen Theologen Gauck und Gandow haben nämlich nicht nur ihren Beruf gemeinsam, sondern auch ihr Gespür für die Freiheit. Vielleicht lohnt es sich, das Augenmerk genau darauf zu legen.

Die Verdienste des ehemaligen Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz beschränken sich nicht auf seine Tätigkeit in der Kirche.

Sie erstrecken sich auf seine langjährige und engagierte Aufklärungsarbeit darüber hinaus. Thomas Gandow hat bei zahlreichen öffentlichen Auftritten und in Publikationen vor Psychosekten und vor Scientology gewarnt. Legendär auch seine Auseinandersetzungen mit der neosatanistischen Thelema-Organisation.

Gerade im Osten haben Scientologen aggressiv versucht, die in Dingen der Freiheit unerfahrenen, ehemaligen Insassen der DDR in neue Abhängigkeiten zu locken.

Der gesellschaftliche Umbruch in Osteuropa war für Sekten deshalb ein gefundenes Fressen, weil die Bürger – eben noch wie Kleinkinder an der Hand des sozialistischen Staates geführt – plötzlich vor der Aufgabe standen, in Freiheit und Eigenverantwortung ihre Geschicke selbst zu lenken.

Wer da auf der Suche nach Orientierung und nach neuem Selbstbewusstsein war, dem erschienen „Persönlichkeitstests“, „Kommunikationskurse“ und esoterisch-pseudowissenschaftliches Geschwurbel attraktiv.

Der baldige Träger des Bundesverdienstordens Gandow und der baldige Bundespräsident Gauck haben erkannt, wo die Gefahren für die Freiheit liegen. Letztlich spielt es keine so große Rolle, ob sich Menschen in staatliche Abhängigkeit begeben oder in die von Psychosekten.

Auf kurz oder lang schwächt beides. Die Stärke eines Menschen besteht darin, sich gegenüber solchen Versuchungen zu behaupten und selbst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.

Zur Vergabepraxis des Bundesverdienstordens werde ich Joachim Gauck trotzdem einen Brief schreiben, sobald er im Amt ist.

Rein präventiv, versteht sich.

Zum Weiterlesen:

16 Kommentare

  1. Ich mag diese Pauschalisierung des Begriffs „Freiheit“ nicht, weil es etwas „einfach“ ist. Dieser Begriff ist wertlos und Freiheit kann genauso gut wie schlecht sein. Etwa soll ein Kinderschänder nicht die Freiheit haben Kinder zu schänden und ein Raucher sollte nicht das Recht haben Unfreiwillige im Gasthaus einzunebeln. Freiheit wird erst im Kontext gut oder schlecht.

  2. Ich finde den Gastkommentar von Andreas Dietz sehr gut. Ja, ja, die evangelische Kirche hat schon viele kluge Theologen hervorgebracht!!!
    Frage mich, ob es nicht sinnvoller wäre, Herrn Gauck zunächst keinen Brief zu seiner Praxis der Vergabe des Bundesverdienstkreuzes zu schreiben. Wir kennen diese ja noch gar nicht. Der Mann sollte die Chance bekommen, in diesem Amt erst mal anzukommen.

  3. @Wolfgang: Es versteht sich von selbst, dass die Freiheit des Einen dort endet, wo die des Anderen beginnt.

  4. @Andreas Dietz
    Die Freiheit meines Nachbarn beginnt dort wo er mit dem Rasenmähen beginnt…ich verstehe das nicht so recht…meine Freiheit der Ruhe endet mit dem Rasenmähen meines Nachbarn…oder was?

  5. Ahja, schöne Logik. Wenn jemand an einer Stelle gegen übersinnlichen Quatsch vorgeht (aus Konkurrenzbekämpfungsgründen wohlgemerkt), dann möge man das nicht so eng sehen, dass er selbst an anderer Stelle übersinnlichen Quatsch predigt.

    Um die Logik mal zu veranschaulichen: D.h. wenn eine Homöopath sich gegen Chiropraktik ausspricht, möge man doch bitte nicht darauf hinweisen, dass Homöopathie auch Quatsch ist.

  6. @Manuel: Ich habe Thomas Gandow nicht nach seinem Gottesglauben beurteilt (den teile ich auch nicht), sondern nach seinem Einsatz gegen Gruppierungen, die den Menschen abhängig machen, die ihm die Freiheit einschränken, ihn kontrollieren und bevormunden.

    Mir ist nicht bekannt, dass die Evangelische Kirche ähnliche Praktiken bezüglich ihrer Mitglieder pflegt.

    Das Argument, Sektenbeauftragte der Kirchen betrieben Konkurrenzbekämpfung, mag zunächst attraktiv klingen. Wenn man sich aber die Mitgliederzahlen der ev. Kirche auf der einen Seite (ca. 24 Millionen) und die von Scientology auf der anderen Seite (der Verfassungsschutz schätzt 6.000) anschaut, sollte man meinen, dass Konkurrenzbekämpfung sicher nicht das vorrangige Motiv ist.

    Ein überzeugter Kirchengegner mag das eventuell nicht gern hören, aber die Sektenbeauftragten der Kirchen haben eine wichtige aufklärerische Aufgabe übernommen, deren Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

  7. Es war sicherlich nicht so gemeint, aber die Passage über die „ehemaligen Insassen der DDR“ kommt wieder mal sehr von oben herab.

    In der DDR kannte man andere Formen des Betruges und der Irreführung, denen die Bürger der Bonner Republik im umgekehrten Fall ebenso schutzlos ausgeliefert gewesen wären. Mit der vielzitierten Freiheit hat das für meine Begriffe nur indirekt zu tun.

    Auch finde ich es durchaus berechtigt auf den kirchlichen Hintergrund von Herrn Gandow zu verweisen. Das mag seine Verdienste in diesem Bereich nicht schmälern, lässt sie aber in einem anderen Licht erscheinen. Als eines Verdienstkreuzes würdig, würde ich ihn bestenfalls dann erachten, wenn seine Arbeit auch vor „seiner“ Kirche nicht Halt machte.

  8. @007: Der Autor stammt aus der DDR und hat den Begriff „Insassen“ bewusst gewählt. Die Bürger der Bonner Republik waren dagegen nicht eingesperrt – das hat sehr wohl etwas mit Freiheit zu tun.
    Wollen Sie mit Ihrer letzten Bemerkung andeuten, dass Sie die evangelische Kirche zu den Psychosekten rechnen?

  9. @Andreas Dietz:
    Na wenn der Autor aus der DDR stammt, sollte ihm das von mir gesagte klar sein.

    Auch ging es mir nicht um den Begriff „Insassen“ (Wo habe ich das eigentlich gesagt?), sondern darum, dass unterstellt wird die Ex-DDR-Bürger wären auf Sekten nicht vorbereitet gewesen, weil sie in der DDR nicht frei waren. Wäre die Bonner Republik damals an die DDR angeschlossen worden, hätten ihre Bürger z.B. bestimmte Waren nie bekommen, weil sie nicht darauf vorbereitet waren, dass man dafür mehr tun musste als einfach im Laden danach zu fragen. Ich sehe nicht, inwiefern da die Freiheit eine Rolle spielt.

    Meines Wissens ist Herr Gandow „Sektenbeauftragter“, nicht „Psychosektenbeauftragter“. Ich denke und hoffe das beantwortet Ihre abschließende Frage.

  10. @007: Dann hatte ich sie in der Kürze meiner Mittagspause wohl missverstanden.

    Ich möchte etwas ausholen: Individuelle Lebensentwürfe sind in einem Staat, in der das Kollektiv mehr zählt als der Einzelne, nicht im selben Umfang möglich wie in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft. Nachdem die DDR zusammenbrach, fand der Individualisierungsprozess, für den die Westdeutschen viele Jahre Zeit hatten, beschleunigt statt. Dass mit der plötzlichen Notwendigkeit, das eigene Leben nun weitgehend ohne staatliche Einhegung zu organisieren, einige überfordert waren, scheint mir auf der Hand zu liegen.

    Dazu kommt wirtschaftliche Unsicherheit, wo vorher noch Sicherheit bestand. In einer solchen Situation einer Sekte Vertrauen zu schenken, die einem erklärt, wie einfach doch die Welt gestrickt sei, die einen in eine Gemeinschaft aufnimmt, einen dadurch entlastet vom Zwang, sein Leben allein ohne vorgegebene Bahnen zu meistern, oder die einem mit esoterischen Prozeduren das Selbstbewusstsein aufzupumpen vorgibt, das halte ich für plausibel. Wonach sehnen sich verunsicherte Menschen, die es gewohnt sind, rundum versorgt und bevormundet zu werden? Sie sehnen sich nach jenen, die ihnen vorgaukeln, genau diesen Zustand wieder herbeiführen zu können: in einer Sekte oder in einem starken Staat mit hohem Maß an Ordnung und sozialer Sicherheit.

    Der Zulauf junger Menschen zu rechten Gruppierungen im Osten erklärt sich m.E. teilweise ganz ähnlich. Einfache Antworten und Gemeinschaftsgefühl bieten die auch. Oder werfen wir einen Blick auf jene Länder, die im letzten Jahr ihre Despoten verjagt haben. Die Tunesier und die Äqypter haben nun Freiheit, suchen aber Orientierung im Vertrauten. Sie wählen islamistische Parteien mit allerlei freiheitsfeindlichen Vorhaben im programmatischen Gepäck.

    Ich halte es für bedeutend schwieriger, dem Umgang mit Freiheit zu erlernen, als den Umgang mit Warenknappheit.

    Was das Maß an Kontrolle, Bespitzelung, Denunziation, Bevormundung, Autorität, Kollektivempfinden und unterdrückter Individualität angeht, vergleiche ich Sekten lieber mit der DDR als mit einer liberalen Kirche der Gegenwart.

    Bei meiner abschließenden Frage bleibe ich: Betrachten Sie die evangelische Kirche als eine Organisation, über die durch Sektenbeauftragte aufgeklärt werden sollte?

  11. @007: Um noch einmal auf Ihr Gedankenspiel einzugehen:

    „In der DDR kannte man andere Formen des Betruges und der Irreführung, denen die Bürger der Bonner Republik im umgekehrten Fall ebenso schutzlos ausgeliefert gewesen wären.“

    Als mündige und freie Bürger mit Jahrzehnten Demokratieerfahrung, die es kennen, eigenständig zu denken und selbstverantwortlich zu leben, hätten die Westdeutschen im Umkehrfall die Propaganda- und Bespitzelungsmaschinerie der DDR auflaufen lassen.

  12. @Andreas Dietz:
    Sicherlich waren viele DDR-Bürger nach der Wende anfälliger für Sekten usw. weil das für sie etwas völlig neues war, aber umgekehrt wären staatliche Bespitzelungsmaßnahmen u.ä. für Bundesbürger etwas neues gewesen. Die Annahme, Alt-Bundesbürger hätten „im Umkehrfall die Propaganda- und Bespitzelungsmaschinerie der DDR auflaufen lassen“ teile ich dabei nicht. Wie hätten sie das machen sollen? Von der Bespitzelung hätten sie zunächst einmal etwas wissen müssen und dann hätten sie – vermutlich in einem sehr schmerzhaften Prozess – lernen müssen, dass sie z.B. nicht erfolgreich dagegen hätten klagen können wie es mit ihren „Jahrzehnten Demokratieerfahrung“ gewohnt waren.

    Wenn man sich plötzlich in einem ungewohnten Umfeld wiederfindet, ist man dessen Problemen gegenüber immer anfälliger als jemand der in diesem Umfeld aufgewachsen ist. Freiheit ist dabei nicht der entscheidende Faktor.

    Was Ihre Frage angeht:
    Der Begriff „Sekte“ ist nicht klar definiert, also kann ich Ihre Frage erst dann klar beantworten, wenn wir uns auf eine Definition geeinigt haben.
    Ich denke aber, dass jemand dessen Aufgabe es ist, Glaubensgemeinschaften zu beobachten und auf Fehlentwicklungen in diesem Bereich hinzuweisen, es nur dann verdient Kandidat für eine so hohe Auszeichnung wie das Verdienstkreuz zu sein, wenn er keine dieser Gemeinschaften ausklammert.

  13. @007:

    Ist Freiheit auch dann nicht der entscheidende Faktor, wenn sie im Kern das ist, wodurch sich das alte und das neue Umfeld voneinander unterscheiden?

    Ich verstehe Ihre Position bezüglich der Gleichbehandlung der Glaubensgemeinschaften – zumindest im Grundsatz. Trotzdem mag die Frage erlaubt sein, welches die mit den Scientology-Praktiken vergleichbaren ‚Fehlentwicklungen‘ in der Evangelischen Kirche der Gegenwart sein sollen.

  14. Die Freiheit kann nur dann der entscheidende Faktor sein, wenn sie im Kern das ist, wodurch sich das alte und das neue Umfeld voneinander unterscheiden. Aber in diesen Satz lässt sich anstelle von „Freiheit“ fast alles einsetzen (z.B. „Humor“ ;)). Das lässt letztlich keine Aussage über den grundsätzlichen Mechanismus zu.

    Wo habe ich denn behauptet, dass es in der evangelischen Kirche mit Scientology vergleichbare Fehlentwicklungen gab?
    Aber das ist auch gar nicht mein Punkt. Als Mitglied und Beschäftigter der evangelischen Kirche liegt bei Herrn Gandow natürlich der Verdacht nahe, dass er diese, „seine“ Kirche bei seinen Betrachtungen ausklammert und solange es nichts gibt, dass diese Annahme widerlegt könnte er sehr wohl viel geleistet haben, verdiente aus meiner Sicht aber dennoch kein Verdienstkreuz. Sollte das nur daran liegen, dass es in der evangelischen Kirche tatsächlich keine Fehlentwicklungen gibt – was ich schon allein aufgrund der Größe dieser Organisation bezweifle – hat Herr Gandow eben einfach Pech gehabt. Ich muss ja auch ohne Verdienstkreuz auskommen :)

  15. Ich freue mich über die Verleihung, denn letztlich ist es auch ein Zeichen der Würdigung all derer, die sich gegen Sekten und Organisationen einsetzen, die Menschen unfrei machen wollen. Es gibt auch in den Kirchen solche Strömungen (siehe Opus Dei), doch um so wichtiger, denen den Rücken zu stärken, die sich für freiheitliche Sichtweisen einsetzen. Herr Gandow ist mir persönlich bekannt und ich weiß daher, dass er zu denen gehört, die gegen Totalitarismus jeder Art ankämpfen. Und somit ist der Preis mehr als angebracht.
    Ich bin selber nicht religiös, doch finde ich es peinlich, wenn selbsternannte Wächter des Skeptizismus meinen, alle religiös denkenden Menschen als Vollidioten oder Betrüger bezeichnen zu müssen. Mit solchen „Skeptikern“ habe ich nicht viel gemein, denn man sollte auch zu seiner eigenen Sicht immer einen gesunden Abstand wahren.

  16. @Heinz Mertesheim:
    Darf ich fragen, wen Sie meinen? Ich kann Worte wie „Vollidiot“ oder „Betrüger“ hier nirgends finden. Im Gegenteil: normalerweise verurteilt hier niemand Menschen aufgrund ihrer Religiosität.

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