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Führerschein ohne Fahrstunde = Heilpraktiker: Eckart von Hirschhausen im Zeit-Interview

| 11 Kommentare

Das Zeit-Interview mit Eckart von Hirschhausen (42/2016) ist jetzt online.

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Ein Auszug:

ZEIT: Ist jemand ernsthaft erkrankt, nützt es ihm nichts, dass sein Therapeut nur den Placeboeffekt besonders effektiv ausnutzen kann Etwa bei Krebserkrankungen.

Von Hirschhausen: Ja. Denn natürlich gibt es auch eine düstere Seite der Alternativmedizin. Heilpraktiker oder Ärzte, die sich selbst als Krebsexperten bezeichnen und Patienten von lebensrettenden Therapien abraten. Und die dafür nicht belangt werden. Kein Mensch schützt Patienten vor solchem gefährlichen Unsinn.“

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Was meinen Sie damit?

 Die Heilpraktikerprüfung ist wie Führerschein machen ohne eine einzige Fahrstunde. Es gibt lediglich eine zweistündige rein theoretische Prüfung vom Gesundheitsamt. Heilpraktiker müssen nie belegen, welche praktischen Fähigkeiten sie haben, dürfen aber spritzen und Infusionen legen.

Es gibt viele, die sich und ihre Möglichkeiten grandios überschätzen und Schaden anrichten. Als Geistheiler muss man nur ein Gewerbe anmelden, dann darf man loslegen.“

Zum Weiterlesen:

  • Eckart von Hirschhausen: „Ich ziehe eine ganz klare Linie“, Zeit-Wissen am 20. Oktober 2016
  • Politik will Therapiemethoden und Zulassung von Heilpraktikern „kritisch prüfen“, GWUP-Blog am 26. September 2016
  • “Wunder wirken Wunder – Wie Medizin und Magie uns heilen” von Eckart von Hirschhausen, GWUP-Blog am 1. Oktober 2016

11 Kommentare

  1. Zitat:

    ZEIT: Ist jemand ernsthaft erkrankt, nützt es ihm nichts, dass sein Therapeut nur den Placeboeffekt besonders effektiv ausnutzen kann Etwa bei Krebserkrankungen.

    So ist das nicht richtig, da der Placeboeffekt immer unterstützend wirkt – also nützt es doch etwas…Er kann keine Heilung herbeiführen, aber der Placeboeffekt wirkt immer unterstützend, also komplementär ;-) und das sollte in der „Schulmedizin“ nicht unterschätzt werden, was man auch mittlerweile in Studien untersucht.

  2. Das Zitat ist natürlich richtig, wenn man nur Hilfe beim Heilpraktiker sucht…
    Ich denke heutzutage ist das verhindern des Nocebo-Effektes fast wichtiger.
    mMn fördert die moderne „Apparate-Medizin“ uU einen Nocebo-Effekt, da die menschliche Komponente (in Form von Zuwendung) immer mehr in den Hintergrund rückt; auch in den Beipackzettel der Arzneimittel werden aus rechtlichen Gründen mehr die (negativen) Nebenwirkungen aufgelistet und weniger den Nutzen, die der Patient aus den Medikamenten zieht…Also Obacht! Man darf den Nocebo-Effekt auch nicht unterschätzen…

  3. @Ralf im Vollrausch

    Ich zitiere aus dem genannten Zeitartikel:

    „Von Hirschhausen: Die Ärzte sind mit ihren Patienten in einer Dosis-Wirkungs-Beziehung: Je mehr Vertrauen diese zu ihnen haben, desto wirksamer sind die verschriebenen Medikamente.

    ZEIT: Sie sprechen vom Placeboeffekt.

    Von Hirschhausen: Genau. Der wird oft abgetan als Täuschung oder als Einbildung des Patienten. Dabei spielt er bei jeder Behandlung eine große Rolle. Positive Erwartungen verändern messbar die Wirkung auch von wirksamen Medikamenten. Da werden Selbstheilungskräfte aktiviert, eine Art innere Apotheke, ein innerer Heiler.“

  4. @Ralf: Was ist denn das immer mit der „Apparatemedizin“?

    Ich meinerseits war sehr froh und beruhigt, daß der Anästhesist die Narkose nicht von Hand dosieren, Blutdruck und Herzschlag nicht durch Handauflegen überwachen mußte, und daß weitere hilfreiche Apparate zu Unterstützung und für alle Eventualitäten bereitstanden, als ich operiert werden mußte.

    Ein evtl. Noceboeffekt kommt doch nicht von den Apparaten sondern von einer grassierenden Technikfeindlichkeit.

    Und da ist´s bestimmt nicht hilfreich, wenn man unsererseits unaufmerksam oder unbedacht die Kampfbegriffe der Natürlichkeitsschwurbler übernimmt (nämliches gilt für die Vokabel „Schulmedizin“, hier schon des öfteren klar diskutiert).

  5. „Was wirkt, ist die Beziehung, die Zuwendung, und das Gefühl, in seiner Individualität gesehen zu werden.“

    Der Preis dafür sind nutzlose „Arzneien“, die mitunter dafür sorgen, dass das Geborgenheitsgefühl von sehr überschaubarer Dauer ist.

  6. na ein glück für mich, ich gehe mit ärzten keine beziehung ein brauche auch keine zuwendung, und meine individualität kann dem doc gestohlen bleiben.
    was ich brauch ist kompetenz, exakte diagnosen, passende medikamente.
    und ob der doc lieb ist oder ein kotzbrocken geht mir am allerwertesten vorbei.(wenns mir stinkt sage ich ihm das)
    übrigens habe ich noch nie unterschiede bei der insulinwirkung bemerkt egal ob der doc lieb oder ein stinker war.

  7. Liebe skeptischen Skeptiker, ich glaub euch schon, dass ihr so nüchtern drauf seid, aber auch da wäre es nett, die Fakten anzuerkennen:

    60 % wollen „Alternativ“medizin haben. Weil sie diese Zuwendung dort haben wollen. Die wir in der Medizin so nicht bieten.

    Bitte kommt jetzt also nicht mit „meiner Meinung nach“ und „ICH brauch aber keinen netten Doc“ – das werft ihr doch der Gegenseite immer vor, dass sie von Einzelerfahrungen und -meinungen auf das große Ganze schließen oder sie gar für Fakten halten ;-)

    Von Hirschhausen hat Recht mit den Punkten, die er anspricht, und wir sollten froh sein, dass er das tut. Noch dazu auf so charmante Art und Weise. Und mit einer solchen Präsenz.

  8. @Pedern
    Deshalb gebraucht ich auch den Begriff „Schulmedizin“ in Anführungszeichen.

    Ich glaube aber, daß viele die menschliche Komponente an der Medizin schätzen und wollen, da schließe ich mich nicht aus.

    Natürlich hat die Technik einen großen Nutzen in der Medizin, aber ich erkenne auch die Gefahren, die eine vernetzte Medizin (sprich: Internet der Dinge) bereithält, aber das ist bestimmt nicht das Problem des Otto-Normal-Patienten.

    Mittlerweile gibt es „Industrie 4.0“, aber immer noch „Medizin 1.0“ und das liegt gerade daran, daß der „normale“ Patient immer noch die Zuwendung eines Arztes braucht.

  9. „60 % wollen “Alternativ”medizin haben. Weil sie diese Zuwendung dort haben wollen. Die wir in der Medizin so nicht bieten.“

    Ist es wirklich wünschenswert, Zuwendung, vertrauliche Gespräche und ausgiebige Gespräche von einem Arzt zu erwarten? (Überspitzt: Geld zu zahlen, damit einem jemand zuhört)

    Meiner Meinung ist hier schon das grundlegende Problem, ein praktischer Arzt sollte sich um (behandelbare) Krankheiten schnell und effizient kümmern. Für zwanglosen Tratsch sollte idealerweise eine passende Umgebung her, für ernsthafte Gespräche ein Psychiater.

    Die Hausärzte sind zumindest jetzt die erste Anlaufstelle für Alles, nur heißt das dann auch das zB. ich mit einer beginnenden Grippe und Magenschmerzen in der Aufnahme sitze und zügig einen Krankenschein und Medikamente haben will – sonst nichts.

    Wäre passend, wenn so eine Gesprächstherapie anerkannt wird (mit anständiger Ausbildung), und die Stigmatisierung von Psychiater-Gesprächen behoben wird.
    Das Ganze und noch viel mehr sämtlichen Hausärzten anzulasten ist nicht zielführend, es gibt sehr gute Ärzte die aber sehr direkt sind und eben nicht lange höflich umschreiben wenn der Patient Mist baut. Wieso sollte dieser „abgewertet“ werden, weil fachlich schlechtere Kollegen besser schätzen?

  10. Und schon gibt es ein neues Buch dazu:

    << Als Britta Blumencron, Expertin für Gesundheitskommunikation, nach einem schweren Reitunfall auf der Intensivstation liegt, spürt sie, wie heilsam die Worte der Ärzte und Pflegekräfte sind: wohlig warm wie eine Pudelmütze. Und sie nahmen ihr die Angst. Weshalb im Verhältnis zwischen Arzt und Patient vieles im Argen liegt und wie die Gesprächsqualität verbessert werden kann, schildert sie in ihrem Fachbuch über effektive Patientenkommunikation für Ärztinnen, Apotheker, Kranken- und Pflegepersonal und Therapeutinnen: Am Puls des Patienten – Auf Erfolgskurs mit gesunder Kommunikation Die Vermessung des Menschen Das derzeitige System lässt Patienten im Alltag allein. Tablet und Handy sind heute immer dabei und haben die Gesundheitskommunikation verändert – jedoch nicht nur zum Guten. Der über das Internet zum Teil bereits überinformierte Patient trifft auf einen Behandler, der seine Informationshoheit eingebüßt hat und sich dadurch auch überfordert fühlt. Gleichzeitig geht die Entwicklung immer mehr in Richtung personalisierter Medizin: Sie erstellt einen genetischen Fußabdruck des Menschen, auf dessen Basis die Behandlung festgelegt wird. „Die personalisierte Medizin ist eine Vermessung des Menschen. Nicht das Individuum, sondern sein genetisches Profil zählt dabei. Der Patient mit seinem Bedürfnis nach direkter Ansprache wird jedoch nach wie vor nicht ernst genommen“, kritisiert Britta Blumencron. Ihre Antwort auf die Tendenz zur personalisierten Medizin ist die personenzentrierte Medizin. „Was ist darunter zu verstehen? Eine Medizin, die auf die Sprache des Patienten besser eingeht, die Kompliziertes einfach rüberbringt. Eine Medizin mit Empathie.“ Der Wunsch nach Zuwendung Forschungs- und Studiendaten aus der Neuro- und Kommunikationswissenschaft zeigen, dass der Wunsch des Patienten nach direkter Ansprache groß ist. Auch Heilung und Rehabilitation verlaufen umso besser, je mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung der Patient erhält. „Personenzentrierte Kommunikation trägt wesentlich zum Heilungsverlauf bei“, erklärt die Autorin. „Auch die meisten Zwischenfälle in Krankenhäusern könnten vermieden werden, wenn die interne Kommunikation ernst genommen und besser organisiert werden würde.“ Statt „Gott in Weiß“ und Zeigefingermedizin sind heutzutage vom mündigen Patienten gesunde Gespräche gefragt. Er ist nicht mehr obrigkeitshörig und ohnmächtig, sondern fordert eine Kommunikation auf Augenhöhe. Mit Worten heilen Dennoch ist in Zeiten der Digitalisierung und Hightech-Medizin ein Trend zurück zu erkennen. Die Beziehung und das persönliche Gespräch zwischen Behandler und Patient werden immer wichtiger. Das Rollenbild des Arztes ändert sich zum Gesundheitscoach, der sich Zeit für Gespräche nimmt und dem seine Patienten Vertrauen entgegenbringen; das ist die beste Basis einer erfolgreichen Therapie. In der Kommunikation liegt somit hohes therapeutisches Potential. „Patienten sind nicht blöd. Sie spüren genau, ob etwas wahrhaftig gesagt und gemeint ist“, ist Britta Blumencron überzeugt. „Während meines Krankenhausaufenthalts war die empathische Zuwendung des Personals wie ein Riesenpflaster mit Heilmittel drauf“, erzählt sie. „Ich kann daher nur appellieren: Setzen Sie die Pudelmütze auf, wenn Sie mit Ihren Patienten sprechen. Damit können Sie Behandlungsberge versetzen!“ << http://www.goldegg-verlag.com/book/am-puls-des-patienten/

  11. Zu Bernd Harders Kommentar:
    Ja, das ist wohl auch ein Problem heutzutage, daß man (fast) alles googeln kann und hier liegt auch ein Hund begraben, denn um einen guten Placebo-Effekt zu erzielen, bedarf es eben „Götter in Weiß“.
    Ich hatte das mit der „Zuwendung“ geschrieben, um darauf hinzuweisen, daß es dieser bedarf, wenn man einen Placebo-Effekt generieren will, ebenso wie Rituale…aber auch klare Hierarchien des „heiligen Wissens“, was ein Erfolgsrezept von Geheimbünden ist.
    Man darf nicht vergessen, daß der Placebo-Effekt nicht eine Errungenschaft des Großhirns ist, sondern ein archaischer Effekt, deshalb gibt es ein Placebo-Effekt bei Tieren.

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