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„Wider die Allesversprecher“: Zum Tod von Dr. Werner Hessel

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Die GWUP trauert um Dr. Werner Hessel, der am 1. Juni im Alter von 65 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben ist.

Hessel war niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Geriatrie in Beeskow (Brandenburg).

Bei den Skeptikern engagierte er sich nicht „gegen“ Alternativmedizin, sondern für eine transparente und richtig angewandte wissenschaftsbasierte Medizin zum Wohle der Patienten.

Aufsehen erregte sein Interview „Unmögliches muss man nicht erklären“ im Skeptiker 3/2008.

Es ist als PDF verfügbar sowie in vier Teilen hier im Blog:

  • Was hat die GWUP gegen Homöopathie? Teil I, GWUP-Blog am 1. Februar 2011
  • Homöopathie: Parallelwelt ohne Naturgesetze, Teil II,  GWUP-Blog am 2. Februar 2011
  • Medizin ohne geistige Umweltverschmutzung,Teil III, GWUP-Blog am 3. Februar 2011
  • Homöopathie: Unmögliches muss man nicht erklären, Teil IV, GWUP-Blog am 4. Februar 2011

Im Skeptiker 1/2008 hatte Hessel sein Selbstverständnis als „konsequent naturwissenschaftlich und psychologisch/soziologisch orientierter Arzt“ dargegelegt und zugleich erklärt, wie er „pseudomedizinische Vorstellungen“ einzelner Patienten handhabt.

Kein Nachruf könnte aussagekräftiger sein als dieses Gespräch, das ich damals mit ihm führen durfte.

Es stand unter dem Motto: Wider die Allesversprecher – Was tun mit Patienten, die für obskure Wunderverfahren schwärmen?

 Frage: Wie häufig werden Sie in Ihrer Praxis mit Patientenwünschen nach eher abseitigen Diagnostik- oder Therapieverfahren konfrontiert?

Dr. Werner Hessel: Ich bemühe mich seit Jahren um den Ruf eines konsequent naturwissenschaftlich und psychologisch/soziologisch orientierten Arztes, sodass Patienten, die gerne mehr Esoterik hätten, sich bereits anderweitig orientiert haben. Ich werde also in meiner Praxis nur hin und wieder mit pseudomedizinischen Vorstellungen konfrontiert.“

Womit beispielsweise?

 Ich habe einmal eine Patientin beraten, die mit einem Prospekt aus einer anderen Praxis zu mir kam. Darin ging es um eine Therapie mit Hochtonfrequenzen, die biochemische und bioelektrische Abläufe in den Körperzellen verändern und damit „Resonanzphänomene“ auslösen sollen. Sie wollte wissen, was ich davon halte.“

Und?

 Ich habe ihr Folgendes gesagt: Beim Googeln im Internet fanden sich zirka 60 Arztpraxen in ganz Deutschland, die diese Therapie anbieten. Weder im Prospekt noch im Web war ein plausibles Wirkprinzip erklärt. Dafür sei die Methode für eine Unzahl von verschiedenen Krankheitsbildern geeignet — das ist in der Medizin äußerst selten.

Zudem habe die Behandlung fast keine Nebenwirkungen, was wiederum dagegen spricht, dass sie überhaupt wirkt.“

Sie selbst hatten von dem Verfahren also noch nie etwas gehört?

 Richtig.

Obwohl ich mich über die Medien für Ärzte ständig auf dem Laufenden halte, war mir die Methode unbekannt. Bei der heilsversprechenden Reklame für diese Methode wäre doch sicherlich in der Fachpresse schon einmal über die Erfolge damit darüber berichtet worden.

Ich erklärte der Patientin also weiter, dass neue Methoden in der Medizin erst einmal jahrelang erprobt und immer wieder von anderen Forschern überprüft werden und sich erst in einem teils jahrzehntelangen Meinungsstreit durchsetzen – oder eben verworfen werden.

Ganz abgesehen vom „human factor“: Wissenschaftler sind alles andere als verschwiegen. Sobald sie etwas entdeckt haben und sich ihrer Sache einigermaßen sicher sind, geben sie es stolz bekannt. Entweder um den Nobelpreis zu bekommen oder einfach, weil sie mit ihrer Arbeit anerkannt werden und damit Geld verdienen möchten.

Wäre die besagte Methode wirklich so gut, wäre das längst schon breit propagiert worden.“

Was machen Sie, wenn ein Patient trotz solcher Erläuterungen auf der neuesten Wunderbehandlung besteht?

 Dann bitte ich ihn oder sie herzlich, aber nachdrücklich, meine Praxis zu verlassen und mir nicht die Zeit zu stehlen.

Diese Handlungsweise ist bei chronischen Arzt-Patient-Konflikten erprobt und führt zu einer schlagartigen Verbesserung des innerbetrieblichen Klimas.“

Und wenn es sich um einen Stammpatienten handelt, der eines Tages mit der esotera in der Hand im Sprechzimmer steht und die Heilkraft von rechtsdrehendem Wasser ausprobieren möchte, weil die beschriebenen Indikationen genau auf seine Beschwerden passen?

 Wäre es jemand, der schon lange zu mir kommt und plötzlich abdriftet, würde ich ihm sagen: Ich muss als Arzt per Berufsordnung eine Sorgfaltspflicht einhalten und habe Therapiefreiheit, per Gerichtsentscheid sogar eine Therapiehoheit. Und diese Therapiefreiheit beinhaltet nicht zuletzt auch, eine Methode, die ich nicht verstehe und die ich für falsch halte, nicht anzuwenden.

Meine Sorgfaltspflicht wiederum fordert, Schaden vom Patienten abzuwenden. Zum Beispiel dadurch, indem ich eine nicht notwendige Maßnahme unterlasse. Denn wenn die Behandlung nichts nützt, kann sie — entgegen der hierzu oft gehörten Ansicht — durchaus schaden.

Allein schon durch das Unterlassen einer wirksamen Maßnahme, die dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht.“

Publikumsmedien wie Fliege — Die Zeitschrift oder Magazin 2000plus propagieren unverdrossen etwa ein „göttliches Naturprodukt gegen den Herzinfarkt“ oder das „Operieren im energetischen Körper“. Haben Sie den Eindruck, dass dieser Wildwuchs zunimmt?

 Ja, durchaus.“

Woran mag das liegen?

 Ein nicht ganz kleiner Teil der Mediziner hat durch sein Verhalten wohl den Eindruck erweckt, wirklich alles heilen respektive reparieren zu können. Das färbt natürlich auf die Patienten ab. Fraglos ist es richtig, dass Wissenschaft und Medizintechnik grandiose Fortschritte gemacht haben; trotzdem sind die Gesundheits/Krankheitsverhältnisse beim Menschen nach wie vor äußerst komplex.

Der eine oder andere Patient aber will die Grenzen der seriösen Medizin nicht mehr so recht wahrhaben.“

Eine Denkweise, die durch bestimmte Presseprodukte massiv gefördert wird.

 Leider nicht nur in der Esoterikpresse. In einer ärztlichen Fachpublikation habe ich die Überschrift gelesen: „Die Alternativmedizin beginnt dort, wo die Schulmedizin ihre Grenzen hat.“

Da die so genannte Schulmedizin sich vernünftigerweise den Naturgesetzen sowie wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen und deren Anwendung unterwirft, könnte man als Leser hier also den Umkehrschluss ziehen: Für Alternativmedizin gelten Naturgesetze und Wissenschaft nicht, jedenfalls nicht im allgemein anerkannten Sinne.“

Vielleicht wäre es angebracht, eher von Paramedizin oder Pseudomedizin zu sprechen? Also nicht als diskutable Alternative zur Schulmedizin, sondern als Synonym für Aberglaube und Irrationalismus.

 Von mir aus. Wobei es nach meiner Erfahrung viel schwieriger ist, den richtigen und passenden Begriff für das zu finden, was wir heute üblicherweise Schulmedizin nennen. Denn „Schulmedizin“ ist im 19. Jahrhundert ursprünglich als abwertender Kampfbegriff von Gegnern der wissenschaftlichen Medizin geprägt worden.

Eingedenk des aktuellen Bemühens um evidenzbasierte Medizin scheint mir „wissenschaftliche Medizin“ korrekter. Und was das Gegenteil davon angeht: Ich benutze in Patientengesprächen zu solchen Themen ungehemmt auch Ausdrücke wie „Quacksalberei“ oder „Scharlatanerie“.

Das könnte man auch diplomatischer formulieren — warum so entschieden?

 Die Pseudomedizin unterstellt im Grunde zwei Welten, die nur in der Phantasie der Pseudomediziner miteinander verbunden sind: Da gibt es zum einen die reale Welt, in der wir alle tatsächlich existieren und in der die uns bekannten Naturgesetze gelten. Und zum anderen eine Parallelwelt, in der alles Objektive und alle Beschränkungen auf wundersame Weise aufgehoben sind.

Wer sich ein solches Weltbild zu eigen macht, ist zugleich immun gegenüber jedweder vernünftiger Argumentation. Im Gegenteil, meistens muss ich mir dann sagen lassen, dass ich mit meiner „beschränkten“ und „eindimensionalen“ Sicht der Dinge arm dran sei.

Sie genügt mir aber völlig.“

Welche Tipps geben Sie Patienten, die seriöse von unseriösen Anbietern und Gesundheitsleistungen unterscheiden wollen?

 Neben den eben genannten Überlegungen zum „Resonanzphänomen“ frage und erinnere ich meinen Patienten daran, warum und unter welchen Umständen, mit welchem Leiden und welchen Erwartungen er oder sie denn zum ersten Mal zu mir in die Praxis gekommen ist.

Dann kommt das Gespräch ganz schnell auf das Thema Vertrauen und das Arzt-/Patienten-Verhältnis, auf Ehrlichkeit, auf gemeinsames Abwägen.Oft wollen die Patienten am Ende wissen, was ich denn an ihrer Stelle, in ihrer momentanen Situation, wo eine scheinbare Wundertherapie lockt, machen würde.

Ich sage es ihnen ganz ehrlich.“

Das heißt, Sie raten grundsätzlich ab?

 Manchmal, wenn ich über das Verfahren wirklich nichts weiß, rate ich im Einzelfall auch schon mal zum Ausprobieren. Allerdings mit einem Hintergedanken.

Ich sage dann dem Patienten: „Ich würde zwar nicht zu diesem Wunderheiler/Paramediziner/Quacksalber gehen — aber es würde mich schon interessieren, was der macht und wie der so ist. Wenn Sie hingehen, würden Sie also quasi für mich spionieren, allerdings auf Ihre eigenen Kosten.“

Dann verzichten die allermeisten Patienten, weil sie sich genieren zu spitzeln.“

Erscheint Pseudomedizin vielen Menschen nicht auch deswegen attraktiv, weil wissenschaftliche Medizin sich zwar wissenschaftlicher Methoden bedient, aber letztlich doch keine exakte Wissenschaft ist und sein kann, während Paramediziner einfache Antworten auf komplizierte Fragen und Zusammenhänge haben? Ich zitiere mal eine Überschrift aus einer Esoterikzeitschrift: „Über Zweifel erhaben — heilende Energien ohne Grenzen“.

 Hier kommt ins Spiel, ob der Patient schon einmal persönliche Erfahrungen mit einer solchen Methode gemacht hat und fest davon überzeugt ist, sie habe ihm geholfen. In diesem Fall diskutiere ich nicht weiter, weil es absolut keinen Zweck hat.

Wenn der Patient sich aber auf eine vernünftige Diskussion einlässt, erkläre ich ihm, dass wir im Einzelfall mangels eines unbehandelten Vergleichszwillings mit derselben Krankheit niemals unterscheiden können, ob nun wirklich die „Wundertherapie“ für die Besserung verantwortlich war — oder ob die Krankheit nicht auch ohne jedes Eingreifen genauso verlaufen wäre und die Therapievermutung bloß Zufall oder eine Fiktion ist.“

Es gibt zahlreiche Gründe, warum auch falsche oder unsinnige Therapien zu wirken scheinen.

 Genau, deshalb spreche ich mit dem Patienten auch über das Phänomen der Spontanheilung oder über den wellenartigen Verlauf chronischer Krankheiten mit schlechten und guten Phasen, über den Placebo-Effekt und über psychosomatische Leiden und Beschwerden.

Wir wissen zum Beispiel im Allgemeinen nur, dass Alzheimer-Patienten für etwa zwei Jahre im Krankheitsverlauf angehalten werden Was aber beim einzelnen Patienten wann passiert, können wir nicht genau vorhersagen oder messen.“

Sie haben das Stichwort „evidenzbasierte Medizin“ genannt. Was bringt ebM den Patienten — auch denen, die auf die „beschränkte“ Schulmedizin schimpfen?

 Die Pseudomedizin leugnet grundsätzlich die Notwendigkeit von Studien. Folgeabschätzung und Nutzenüberprüfung, weil sie sich darüber erhaben glaubt beziehungsweise behauptet, mit wissenschaftlicher Methodik „nicht vollständig erfassbar“ zu sein. Das ist der Unterschied zur evidenzbasierten Medizin als ein Konzept zum wissenschaftlich begründeten und transparenten ärztlichen Handeln.

EbM ist eben gerade keine Kochbuchmedizin. Leitlinien sind keine Richtlinien, sie geben lediglich Empfehlungen und Orientierungen. Richtlinien legen etwas verbindlich fest und lassen nahezu keinen Spielraum zu. Leitlinien dagegen muss man nicht einhalten, wenn sie auf den konkreten Patienten nicht passen.

Ärztliches Handeln wird auch ohne EbM bereits darauf festgelegt. Vorgeschichte, Befunde, Diagnosen zu einer Therapie zusammenzuführen und dies zu dokumentieren. EbM will eigentlich nur bewusst machen, welches meine Entscheidungsgrundlagen sind.

Aber sie muss richtig praktiziert werden: Erfahrung des einzelnen Arztes plus Anwendung auf den konkreten Patienten plus Klärung der Evidenzlage der angewendeten Diagnostik und Therapie.“

Zum Weiterlesen:

  • Homöopathie, Ganzheitlichkeit und die sprechende Medizin, GWUP-Blog am 20. April 2013
  • How to guard against a quack, USA Today am 18. Juni 2013

 

7 Kommentare

  1. Wir trauern um dich, lieber Werner, ich erinnere mich an gute Gespräche vor einigen Jahren. Danke auch für dein Engagement für mehr Qualität im Gesundheitswesen.

  2. Werner wird uns fehlen!

  3. Allen Anschein nach ein intelligenter und emphatischer Mann. Ich wäre gern von ihn als Hausarzt behandelt worden. Es trifft immer die Falschen.

  4. @maba
    Wie recht Sie doch haben…manche Menschen gebührt ein “ewiges Leben”…aber auch manche werden “ewig” im Gedenken…

  5. Die größte Ehre, die man ihm noch erweisen kann ist, dass er in guter Erinnerung bleibt und das gelobt wird, was er in seinem Leben vollbracht hat

  6. Wenn man schwer krank ist, ergreift man doch jeden Strohhalm. In meinem Freundeskreis habe ich es auch erlebt. Aus Angst vor dem Tod, wurde jede Heilmethode getestet, andere Leute befragt uvm. Aber ist das nicht normal? Hängt nicht jeder an dem bisschen Leben?

  7. @Volksbestattung:

    Das mag schon sein, aber trotzdem ist dem/der Betroffenen mit vollkommen sinnlosen Methoden nicht geholfen:

    https://blog.gwup.net/2013/04/18/homoopathie-wenn-bose-skeptiker-hoffnungen-zerstoren/

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