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Die Großstadt-Krokodile: See you, Gator

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Und es gibt sie doch! Alligatoren in New York. Nicht im Zoo, sondern … nein, auch nicht in der Kanalisation. Mitten auf der Straße ist die Schriftstellerin Joyce Hackett einem begegnet. Davon berichtet sie heute höchst belletristisch in der Welt:

In den Seitenstraßen von Queens suchte ich mir gerade meinen Weg nach Manhattan, als mir eine Traube von vielleicht dreißig Menschen auffiel, die um einen alten, marineblauen Datsun herumstanden. Ich kurbelte das Fenster runter und winkte der Polizistin. ,Was ist los?‘ Sie verdrehte die Augen. ,Alligator‘, sagte sie, als wolle sie eigentlich zum Ausdruck bringen, dass sie schon längst Feierabend habe.“

Und wirklich:

Da saß er, reglos auf dem nassen Asphalt. Kein Fünfzehn-Zentimeter-Baby-Alligator, der hier maß eher einen Dreiviertelmeter … Wie ein gefährliches Raubtier sah er nicht aus, eher wie ein ausgesetztes Kuscheltier, das in seiner Verlassenheit unter einem Auto Schutz gesucht hat und jetzt auf ein paar Tipps hofft, wie es sich verhalten soll. Ich fühlte mich an mich selbst erinnert, an jede einzelne Buchparty meiner ersten Jahre in New York.“

Der unerwartete Anblick des Schuppentiers im New Yorker Großstadtdschungel bringt die Künstlerin zu weiteren eigenwilligen Assoziationen, die unmittelbar an den Mythos von den Alligatoren in der Kanalisation anknüpfen:

Der Alligator sah jetzt wie ein Erstes-Stadium-New-Yorker aus, gerade angekommen und von den Lichtern der Stadt geblendet. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir ein glückliches Leben für ihn ausmalte, in den Strömen, die unterhalb der Keller einiger der ältesten Gebäude Manhattans immer noch fließen:
Ein armer kleiner Schoßalligator, allein im Untergrund, entkommt dachsgroßen Ratten, wohlmeinenden Wildtier-Bürokraten und einer Gang großer alter Kanalkrokodile, deren Anführer an meinen ersten New Yorker Vermieter erinnert, einen Typen, der nach einem Fall von Antennenkabel-Piraterie den Notausgang aufs Dach mit einer Kette verriegelte.
Am Ende planscht der kleine Alligator fröhlich in unseren unterirdischen Gewässern, und herzensgute Hausmeister füttern ihn. Ganz bestimmt wartete da ein Kinderbuch.“

Niedlich. Und doch keine Widerlegung der alten Urban Legends, wie Hackett selbst weiß:

Wir mögen die Idee, wir kramen sie liebend gern hervor – und besonders gerne bringen wir sie jungen New Yorkern nahe, die uns in der U-Bahn gerade ihr Kaugummi ins Haar geschnippt haben … Es spielt keine Rolle, dass niemand je ein Krokodil in New York gesehen hat. Und dass eine sündhaft teure neue Maschine zur Kanalreinigung unlängst alles mögliche ans Tageslicht brachte, nur keine Reptilien.“

Nun ja, ganz richtig ist das nicht. 

Fakt ist, dass die New York Times im Zeitraum von 1905 bis 1993 13-mal über Alligatoren, Krokodile oder Kaimane in und um New York berichtet hat. Aber nur eines dieser Tiere war direkt in der Kanalisation gesichtet worden. Im Sommer 2001 machte dann „Damon the Caiman“ Schlagzeilen, der von der New Yorker Polizei lebend aus einem See im Central Park gezogen wurde. Auch in Brooklyn entdeckte man vor vier Jahren einen Alligator in einem Wohngebiet.

In den 1930ern tummelten sich angeblich wirklich Alligatoren in New York. Der Superintendent der New Yorker Abwasserbehörde, Teddy May, habe die zahlreichen Gruselstorys seiner Arbeiter zunächst selbst nicht glauben wollen – bis er sich mit eigenen Augen von der Anwesenheit großer Schuppenechsen in der Kanalisation überzeugte.

Mit Rattengift und Gewehren sollen May und seine Leute den Reptilien zu Leibe gerückt sein, die recht zahlreich auch den Bronx River bevölkerten, aber um 1937 allesamt erlegt wurden. Das jedenfalls berichtete der Autor Robert Daley in seinem 1959 erschienenen Sachbuch „World Beneath The City“, für das er ein ausführliches Interview mit Teddy May führte.

Kleiner Schönheitsfehler: Der renommierte amerikanische Mythenforscher Jan Harold Brunvand fand heraus, dass Teddy May ein Aufschneider gewesen ist, der nie für die Abwasserbehörde der Stadt New York arbeitete.

Das für die Kanalisation zuständige „New York City Bureau of Sewers“ verneint Anfragen zu den legendären Gästen im Untergrund routinemäßig – vertreibt aber mit großem Erfolg T-Shirts mit entsprechenden Motiven. Irgendetwas an solchen Storys ist offenkundig publikumswirksam genug, um sie dauerhaft ins Reich der modernen Mythen zu überführen.

Dafür indes hat Joyce Hackett eine ganz gute Erklärung:

Denn New York ist eine Stadt, in der man das Unerwartete erwartet, eine Stadt, in der fremdartige Wesen Wurzeln schlagen, eine Stadt, deren Kanäle, Keller, Archive und Flüsse mehr Geschichten hochspülen, als sich all ihre Schriftsteller zusammen ausdenken können. Eine Stadt, die sich selber schreibt.“

Zum Weiterlesen:

2 Kommentare

  1. Ich habe auch den Eindruck, dass es im New Yorker Untergrund keine Krokodil-Populationen gibt, doch nach diesem Artikel (der auch Teddy May erwähnt) könnte am Alligator von 1935 etwas dran gewesen sein:

    http://cityroom.blogs.nytimes.com/2009/11/23/the-book-behind-the-sewer-alligator-legend/

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