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Dracula – Biss nach München

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Das Frankenstein-Monster haben die freundlichen Skeptiker von der GWUP vergangene Woche historisch-literarisch korrekt in Ingolstadt verortet. Und Dracula?

Gehört nach Transsilvanien, klar.

Und doch … beginnt Bram Stokers Düster-Klassiker seit jeher mit den Worten: „3. Mai, Bistritz. Verließ München um 8.35 Uhr morgens am 1. Mai.“

München? Genau, vom Bahnhof der bayerischen Landeshauptstadt bricht der englische Anwaltsgehilfe Jonathan Harker im Jahr 1883 zu seiner verhängnisvollen Reise auf.

Ist das alles? Durchaus nicht. Das Eingangskapitel des Romans, welches ausführlich Harkers Aufenthalt in München beschreibt, wurde aus der Druckfahne gestrichen.

Warum, dazu gibt es mindestens drei Vermutungen: Möglicherweise war dem Verlag Arnold & Constable das Manuskript zu lang, weshalb der Prolog an der Isar ersatzlos wegfiel. Oder es hatte etwas damit zu tun, dass Stokers Einstieg an die Vampirnovelle „Carmilla“ von Sheridan Le Fanu erinnerte. Oder aber der ursprüngliche „Dracula“-Auftakt war einfach zu gruselig – dahingehend soll sich jedenfalls Stokers Ehefrau Florence geäußert haben.

Möglicherweise hatte die Autoren-Gattin ja Recht.

Wer es genau wissen möchte, dem sei die Kurzgeschichte „Draculas Gast“ empfohlen. Denn unter diesem Titel wurde das Einleitungskapitel später separat veröffentlicht. Einen lesenswerten Artikel zu den Hintergründen veröffentlichte P.M. History in einer Sonderausgabe zum 850. Stadtjubiläum Münchens vor zwei Jahren.

Die Story: Bei einer Spazierfahrt per Kutsche vom Hotel „Vier Jahreszeiten“ in der Maximilianstraße hinaus ins Münchner Umland gerät Jonathan Harker in ein verlassenes Dorf, auf dem ein unheimlicher Fluch lastet. Der Kutscher verweigert den Dienst. Harker geht zu Fuß weiter. Ein Schneesturm zieht auf.

Mitten in der Walpurgisnacht vom 30. April auf den 1. Mai findet sich der junge Mann schließlich auf einem Friedhof wieder, vor dem Mausoleum einer Gräfin Dolingen aus Graz. Harker entdeckt ihre unverweste Leiche, ein Blitz schlägt ein – und die zu ewigem Leben verdammte Vampirin stürzt sich fauchend auf ihn …

„Das Vampirdorf, in dem Harker ankommt, hat seine reale Entsprechung in dem Dorf Pachem, das in einem der zahlreichen Kriege zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert von der Landkarte verschwand“, recherchierte die P.M.-Autorin Felicia Englmann zu dieser gänsehauterregenden Episode.

„Es lag im Osten von München, zwischen Riem und Berg am Laim, wo heute die Pachemstraße daran erinnert. Der Sage nach ist es mit Mann und Maus in der Erde versunken, und an windstillen Tagen soll man früher auf den Feldern das Peitschenknallen und Glockengeläut aus der unterirdischen Siedlung gehört haben.“

Aus den Fängen der blutgierigen Gräfin wird Jonathan Harker schließlich von Dracula himself gerettet – in Gestalt eines weißen Wolfes, der ihn schützt und wärmt, bis man ihn auf dem abgelegenen Friedhof findet. Die Retter waren durch ein Telegramm an den Concierge des „Vier-Jahreszeiten“-Hotels alarmiert worden, als Absender zeichnet wiederum Dracula persönlich.

Doch während wir im Fall des Frankenstein-Monsters zumindest mit einigem Fug und Recht vermuten können, was es mit Ingolstadt als Schauplatz auf sich hat, tappen wir in Sachen „Dracula“ im Dunkeln.

„Den Grund aber, warum Bram Stoker gerade München als Ausgangspunkt für die berühmteste Vampirgeschichte aller Zeiten wählte, hat er mit ins Grab genommen.“

Zum Weiterlesen:

  • Felicia Englmann: „Denn die Toten reiten schnell!“ P.M. History Special Nr. 1 (850 Jahre München), Seite 64-65.

2 Kommentare

  1. Von der These, „Dracula’s Guest“ sei erst aus den Druckfahnen gestrichen worden, halte ich nicht viel. Vom Umfang und vom Stil her passt es nicht zum Rest des Romans; auch ist der bescheidene, etwas furchtsame Jonathan Harker des Romans in „Dracula’s Guest“ plötzlich arrogant, sprunghaft und tollkühn. Im „Dracula“ kann er ein bisschen Deutsch, in „Dracula’s Guest“ versteht er es nicht. Und während Harker im Dracula oft an seine Verlobte Wilhelmina denkt (er will ihr ein Rezept für Paprikahendl mitbringen, wie er es gerade gegessen hat usw.), wird sie in „Dracula’s Guest“ mit keinem Wort erwähnt. Vom Spannungsaufbau wäre es auch ganz ungeschickt, schon im allerersten Kapitel eine Untote auftreten zu lassen; ganz im Gegenteil lässt es sich Stoker im Roman angelegen sein, das Grauen ganz langsam aufzubauen. Harkers Verhalten in München erscheint unlogisch: Er macht dort nur Station auf seiner Reise nach Transsylvanien, deren Zeitplan penibel ausgearbeitet ist; dennoch macht er einen ganz überflüssigen Ausflug mit der Kutsche (den seine Reisespesen als kleiner Angestellter kaum gedeckt haben können), schaut sich die Landschaft rund um München an und beschließt spontan, ein verlassenes Dorf zu erforschen. Man versteht nicht, warum ihm so viel daran liegt, oder warum er den Kutscher, der ihn warnt, kurzerhand fortschickt. Wie will er denn aus dieser menschenleeren, ihm völlig unbekannten Gegend wieder zu seinem Hotel in München zurückfinden, von wo er doch am nächsten Morgen weiterreisen muss? Ich glaube eher, dass „Dracula’s Guest“ Teil einer ersten Entwurfsfassung entstammt und schon recht früh gestrichen wurde.

  2. @Michael J. Hußmann:
    Vielen Dank für die Anmerkungen!

    Die These, dass der Verlag das Kapitel aus Platzgründen gekürzt habe, wird in der Tat meines Wissens nach nur von besagter P.M.-Autorin vertreten.

    Persönlich würde ich eher Ihren Überlegungen zuneigen, wofür auch sprechen würde, dass Stoker an seinem Manuskript wohl in erheblichem Umfang immer wieder „herumgebastelt“ hat. Und dass seine Gattin (nicht der „Dracula“-Verlag) schließlich die München-Episode als Kurzgeschichte veröffentlichte.

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